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Berliner Jobcenter dürfen Hartz IV-Empfänger nicht in rechtswidrige Arbeitsverhältnisse vermitteln und schon gar nicht mittels Sanktionen erzwingen - menschenwürdigen Existenz muss erhalten bleiben(Entscheidung des BVerfG vom 9. Februar 2010)

Mit Beschluss vom gestrigem Tage hat das SG Berlin mit Beschluss vom 19.09.2011, - S 55 AS 24521/11 ER - fest gestellt, dass der mit dem Widerspruch angefochtene Verwaltungsakt, der Leistungsabsenkungen nach § 31 SGB II betrifft, der aufschiebenden Wirkung nach der allgemeinen Vorschrift des § 86a Abs 1 Satz 1 SGG nicht unterliegen. Insoweit räumt § 86b SGG auch für sofort vollziehbare Verwaltungsakte die Möglichkeit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung ein.

Das erfolgte Vermittlungsangebot musste nicht befolgt werden, denn die angebotene Arbeitsgelegenheit war wegen ihrer sittenwidrigen Vergütung unzumutbar (§ 10 Abs 1 Nr 5 SGB II). Es handelte sich um die Vermittlung in ein Arbeitsverhältnis und nicht in eine Maßnahme mit Mehraufwandsentschädigung. Bei der angebotenen Arbeitsgelegenheit in der Entgeltvariante gilt Arbeitsrecht uneingeschränkt (Thie in LPK-SGB II, 2. Aufl. § 16d RdNr 8, 10 mwN).

Eine Vermittlung in rechtswidrige Arbeitsverhältnisse darf von der an das Gesetz gebundenen Sozialverwaltung nicht vorgenommen und schon gar nicht mittels Sanktionen erzwungen werden.

Im vorliegenden Falle folgt die Rechtswidrigkeit des Stellenangebotes aus der Sittenwidrigkeit der Vergütung.

 Die Kammer hält derzeit für Berlin bei einer Vollzeitbeschäftigung eine monatliche Bruttovergütung von weniger als 1058 EUR für sittenwidrig. Die Kammer folgt insofern dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27.02.2006, Az. S 77 AL 742/05 und dem Beschluss der Kammer vom 1. September 2010, S 55 AS 24521/10 ER).

Ein auffälliges Missverhältnis, das die Sittenwidrigkeit im Sinne des § 138 Abs 1 BGB begründet, weil es gegen die in den grundgesetzlichen sowie in Art 4 Nr 1 der Europäischen Sozialcharta als einfachem Bundesrecht zum Ausdruck kommenden Wertentscheidungen verstößt, ist anzunehmen, wenn der angebotene Lohn bei Vollzeitarbeit mit einer durchschnittlichen Arbeitsleistungserwartung unter dem Grundsicherungsniveau für eine volljährige alleinstehende Person ohne Unterhaltsverpflichtungen, bei grundsicherungsrechtlich angemessener Unterkunft und bei uneingeschränkter Erwerbsfähigkeit liegt.

Unter Beachtung der Wirkung der wesentlichen Verfassungsmaßstäbe des Grundgesetzes, insbesondere des Würdeanspruches und des Sozialstaatsgebotes, wie auch der bundesgesetzlichen Wertvorgaben des Art 4 Nr 1 der Europäischen Sozialcharta beanspruchen diese Werte über die zivilrechtliche Schutzvorschrift des § 138 Abs 1 BGB auch im privaten Arbeitsverhältnis zwingende Beachtung.

Diese Wertmaßstäbe wurden durch die Entscheidung des BVerfG vom 9. Februar 2010 erneut bestätigt.

Mit der gesetzgeberischen Entscheidung über das Niveau der Grundsicherungsleistung trifft nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG der Gesetzgeber die auch für die anderen Rechtsbereiche maßgebliche Entscheidung über das Niveau des würdeverbürgenden und ein Mindestmaß an sozialer Teilhabe gewährleistenden Existenzminimums.

Dieses strahlt als das bundesdeutsche Gemeinwesen grundlegender Wert auch in das private Arbeitsrecht. Unsere Verfassungs- und Rechtsordnung toleriert wegen dieser Vorgaben grundsätzlich keine Arbeitsvergütung, die dem Arbeitnehmer bei vollschichtiger Beschäftigung und durchschnittlicher Arbeitsleistung die Absicherung bereits der eigenen menschenwürdigen Existenz nicht erlaubt.

 Dass auch angesichts dieser Grenze, insbesondere bei Unterhaltsverpflichtungen oder Teilzeitarbeit ein rechtmäßiges Arbeitsentgelt nicht stets dazu führt, dass der Arbeitnehmer unabhängig von Transferleistungen leben kann, spricht nicht gegen diese Grenzziehung.

Der Beitrag wurde erstellt von Willi 2, Mitarbeiter des Sozialrechtsexperten RA Ludwig Zimmermann sowie Autor des wöchentlichen Rechtsprechungstickers von Tacheles unter der Führung des Sozialreferenten Harald Thome.

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