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Luxemburger auf Arbeitsuche erhält Hartz IV - Anwendbarkeit des Europäischen Fürsorgeabkommens auf Leistungen nach dem SGB II

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz,Beschluss vom 21.08.2012,-L 3 AS 250/12 B ER -



1. Der aus § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II folgende Ausschluss von EU-Bürgern, die sich allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, von den Leistungen nach dem SGB II verstößt nicht gegen das in Art 4 EGV 883/2004 geregelte Gleichbehandlungsgebot im Hinblick auf Leistungen der sozialen Sicherheit.

EU-Bürger, die bereits eine tatsächliche Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt aufgebaut haben, dürfen nicht von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen werden, weil sie sich allein zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten.

2. Bei den Leistungen nach dem SGB II zur Sicherung des Lebensunterhalts erwerbsfähiger Hilfebedürftiger handelt es sich nicht um Sozialhilfe iSd Art 24 Abs 2 EGRL 38/2004.

3. Zur Frage der Wirksamkeit des Vorbehalts der Bundesregierung gegen die Anwendung des EuFürsAbk auf die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

http://www.mjv.rlp.de/Rechtsprechung/ 



Zitat zu Punkt 3. "


Ob der Vorbehalt hinsichtlich des ALG II die Voraussetzungen des Art 16 Abs b S 2 EFA erfüllt, ist umstritten. Insbesondere wird die Frage, ob es sich bei den Regelungen des SGB II deswegen um "neue" Vorschriften in diesem Sinne handelt, weil sie zu einem Zeitpunkt in Kraft getreten sind, als das EFA bereits galt (so SG Berlin, Beschlüsse vom 11.06.2012 ‑ S 205 AS 11266/12 ER ‑ und vom 14.05.2012 ‑ S 124 AS 7164/12 ER ‑ zit nach Juris), kontrovers diskutiert.


Bedenken dagegen, dass das SGB II zum Zeitpunkt der Anbringung des Vorbehalts "neue Rechtsvorschriften" iSd Art 16 Abs b EFA enthielt, bestehen im Hinblick auf den Umstand, dass die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II mit dessen erstem Inkrafttreten am 01.01.2005 bereits in den sachlichen Geltungsbereich des EFA eingegangen sind.


Die Aufnahme des SGB II in den Anhang I des EFA war dafür nicht erforderlich, da die Aufzählung der Fürsorgegesetze im Anhang I keine konstitutive Wirkung hat (vgl nur BSG, Urteil vom 19.10.2010, aaO). Durch den erst mit mehreren Jahren Verspätung mit Bezug auf die Neubekanntmachung des SGB II vom 13.05.2011 erklärten Vorbehalt vom 19.12.2011 würde es daraus wieder herausgelöst. Art 16 Abs b S 2 EFA soll den Vertragsstaaten jedoch nur Vorbehalte offen halten, die sie bei Vertragsschluss noch nicht machen konnten, weil es ein entsprechendes Fürsorgegesetz noch nicht gab, nicht aber den Vertragsstaaten erlauben, sich bereits aus vorbehaltlos eingegangenen Verpflichtungen nachträglich zu lösen (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.05.2012 ‑ L 25 AS 837/12 B ER ‑, in diesem Sinne auch SG Düsseldorf, Beschluss vom 26.04.2012 ‑ S 10 AS 1258/12 ER ‑, jeweils zit nach Juris).


Zudem stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob mit dem Vorbehalt vom 19.12.2011 nicht der zuvor im Hinblick auf einzelne Leistungen nach dem BSHG bestehende Vorbehalt in unzulässiger Weise erweitert wurde. Versteht man den früheren Vorbehalt zum BSHG "dynamisch" im Sinne einer Anwendung auf die Nachfolgegesetzgebung, so wäre davon das ALG II als Nachfolgeleistung der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 2. Abschnitt des BSHG für den Kreis der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen unterhalb der zum Bezug einer Altersrente berechtigenden Altersgrenze nicht erfasst. Denn die Bundesrepublik hatte sich im Hinblick auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG gerade nicht die Möglichkeit der Ungleichbehandlung der Staatsangehörigen der Vertragsstaaten vorbehalten (vgl dazu BSG, Urteil vom 19.10.2010, aaO).


Es erschiene dann zumindest fraglich, ob dieser ‑ fortgeltende ‑ Vorbehalt nachträglich erweitert werden könnte auf eine Leistung, die für einen Teil der Leistungsberechtigten an die Stelle der früheren Hilfe zum Lebensunterhalt getreten ist. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass hinsichtlich der Hilfe zum Lebensunterhalt und der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem dritten bzw vierten Kapitel des SGB XII nach wie vor kein Vorbehalt erklärt worden ist, ohne dass hinsichtlich der Anwendung des EFA ein sachliches Unterscheidungskriterium zum ALG II ersichtlich wäre. Für die Auffassung, dass das SGB II ein Nachfolgegesetz des BSHG darstellt, das im Hinblick auf die Anwendung des EFA nicht zu einer erheblichen Änderung geführt hat, spricht auch das Verhalten der Bundesrepublik Deutschland nach Erlass des SGB II.


Denn sie hat den Generalsekretär des Europarates von dieser Änderung ihrer Gesetzgebung zunächst nicht unterrichtet. Hierzu wäre sie aber nach Art. 16 Abs. a EFA verpflichtet gewesen, wenn sie der Auffassung gewesen wäre, dass diese Änderung den Inhalt des Anhangs I berührt hat (BVerwG, Urteil vom 18.05.2000 ‑ 5 C 29.98 ‑ zit nach Juris).

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