Prof. Dr. Ulrich Steinwedel, Vors. RiBSG a.D.
I. Überblick
Das
„Gesetz zu dem Abkommen vom 5. Dezember 2014 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen zum Export besonderer
Leistungen für berechtigte Personen, die im Hoheitsgebiet der Republik
Polen wohnhaft sind“ vom 17.03.2015 ist am 20.03.2015 verkündet worden
(BGBl II 2015, 338). Nachdem die beiderseitigen innerstaatlichen
Voraussetzungen erfüllt sind, tritt das Abkommen am 01.06.2015 in Kraft (https://www.juris.de/
jportal/ portal/ page/ homerl.psml?nid=jnachr-JUNA150500997
&cmsuri=%2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht.jsp
Pressemitteilung des BMAS Nr. 23 v. 04.05.2015). Abkommen und Gesetz
markieren den (bislang) letzten Akt in der Geschichte der
„Ghetto-Rente“. Diese hatte, wenn man eines der möglichen Daten
herausgreifen will, 18 Jahre zuvor, am 18.06.1997, ihren Anfang genommen
– eine Geschichte, an deren Entstehung, Fortentwicklung und (nunmehr
doch wohl voraussehbarem) Abschluss die drei Staatsgewalten der
Legislative, Exekutive und Judikative ihren jeweils eigenen Anteil
hatten.
II. Die Ghetto-Rente
Unter
„Ghetto-Rente“ im hier behandelten Sinn versteht man „Rente für
Ghetto-Arbeit“, d.h. die rentenrechtliche Behandlung von im Ghetto
verrichteter Arbeit wie eine „normale“ versicherungspflichtige
Beschäftigung: so, als wären damals tatsächlich und zu Recht Beiträge
zur Rentenversicherung entrichtet worden (im Zuge der
Beschäftigung historischer Sachverständiger mit den Verhältnissen in den
Ghettos hat sich herausgestellt, dass manche Arbeitgeber derartiger
Ghetto-Beschäftigungen in der Tat als solche etikettierte Sozialabgaben
zu entrichten hatten). Ein Beschäftigungsverhältnis aber wird freiwillig
eingegangen. Über lange Jahre hinweg wurde die Arbeit jüdischer
Verfolgter in den Ghettos der Ostgebiete fast automatisch mit
Zwangsarbeit gleichgesetzt (vgl. z.B. BSG, Urt. v. 04.10.1979 - 1 RA
95/78 - SozR 5070 § 14 Nr. 9, wobei auf der Grundlage der damals
festgestellten Tatsachen auch nach heutigen Maßstäben alles für das
Vorliegen von Zwangsarbeit sprach).
III. Ghetto-Rechtsprechung
Dieses
Denkschema durchbrach der 5. Senat des BSG in zwei Urteilen vom
18.06.1997 (5 RJ 66/95 - BSGE 80, 250, sowie 5 RJ 68/95; hierzu bereits
Freudenberg, jurisPR-SozR 3/2010 Anm. 4): Bei zwei Näherinnen, denen
jeweils der Judenrat des Ghettos Lodz (polnisch: Łodź) ihren
Arbeitsplatz vermittelt hatte, habe ein rentenversicherungspflichtiges,
nicht geringfügiges Beschäftigungsverhältnis – und keine Zwangsarbeit –
vorgelegen. Die Sphären „Lebensbereich“ (mit Freiheitsentziehung oder
-beschränkung) und „Beschäftigungsverhältnis“ seien grundsätzlich zu
trennen. Eine zwangsweise Ortsgebundenheit stehe der Annahme eines
Beschäftigungsverhältnisses nicht entgegen. Diese beiden Urteile des 5.
Senats begründeten die sog. „Ghetto-Rechtsprechung“ des BSG, die der 5.
und der 13. Senat in weiteren Urteilen der Jahre 1999 und 2001
fortsetzten (5. Senat, Urt. v. 21.04.1999 - B 5 RJ 48/98 R - SozR 3-2200
§ 1248 Nr. 16, sowie 13. Senat, Urt. v. 14.07.1999 - B 13 RJ 61/98 R -
SozR 3-5070 § 14 Nr. 2, Urt. v. 14.07.1999 - B 13 RJ 71/98 R - SozR
3-5070 § 14 Nr. 3, und Urt. v. 14.07.1999 - B 13 RJ 75/98 R, sowie Urt.
v. 23.08.2001 - B 13 RJ 59/00 R - SozR 3-2200 § 1248 Nr. 17).
Die
Auswirkungen der Rechtsprechung blieben jedoch gering: Auf ihrer
Grundlage war es zwar möglich, Reichsgebiets- oder (bei Zugehörigkeit
zum deutschen Sprach- und Kulturkreis) FRG-Zeiten anerkannt zu erhalten.
Rentenzahlungen hieraus waren jedoch nur nach Deutschland möglich. Denn
die Auslandsrentenvorschriften des SGB VI sahen damals Zahlungen nur
für Bundesgebietsbeiträge vor. Damit waren vor allem für frühere
Ghetto-Beschäftigte, die in den Haupt-Zufluchtsländern wohnten, also in
Israel und den USA, Rentenzahlungen nur auf der Grundlage von
nachentrichteten Beiträgen für Nachkriegszeiträume möglich.
IV. Das ZRBG
Abhilfe
sollte das „Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in
einem Ghetto“ (ZRBG) vom 20.06.2002 (BGBl I 2002, 2074) schaffen; es
wurde als Art. 1 des „Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus
Beschäftigungen in einem Ghetto und zur Änderung des Sechsten Buches
Sozialgesetzbuch“ (im Folgenden: Artikelgesetz) verkündet. Es ergänzte
nach seinem § 1 Abs. 2 die rentenrechtlichen Vorschriften des Gesetzes
zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in
der Sozialversicherung. Nach § 1 Abs. 1 galt es
„für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn
1. die Beschäftigung
a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist,
b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und
2. das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war“.
Für diese Zeiten galten nach § 2 Abs. 1
„Beiträge als gezahlt ..., und zwar
1.
für die Berechnung der Rente als Beiträge nach den
Reichsversicherungsgesetzen für eine Beschäftigung außerhalb des
Bundesgebiets sowie
2. für die Erbringung von Leistungen ins Ausland als Beiträge für eine Beschäftigung im Bundesgebiet (Ghetto-Beitragszeiten).“
§
3 Abs. 1 ZRBG ordnete die Rückwirkung eines bis zum 30.06.2003
gestellten Rentenantrags auf den 18.06.1997 (das Datum der
Ghetto-Lodz-Urteile des BSG) an, Art. 3 Abs. 2 des Artikelgesetzes das
rückwirkende Inkrafttreten seines Art. 1 (also des ZRBG) zum 01.07.1997.
Beides zusammen bewirkte, dass für Berechtigte zunächst eine erhebliche
Einmalzahlung anfiel (die Rentenbeträge von Juli 1997 bis zum Beginn
der laufenden Zahlung, also in aller Regel über mehr als sechs Jahre),
an die sich ein laufender Rentenbezug anschloss.
Welche
Breitenwirkung das ZRBG haben sollte, war damals auch für den
Gesetzgeber nicht vorhersehbar. Die Gesetzesmaterialien enthalten zur
Zahl möglicher Berechtigter keine Angaben; nach einer Pressemeldung im
Zuge der Ghetto-Lodz-Urteile von 1997 hatte der Anwalt einer Klägerin
spekuliert, die Rechtsprechung könne ca. 1.500 Personen betreffen
(Lehnstaedt, Geschichte und Gesetzesauslegung, 2011, S. 17).
Demgegenüber: Für Mitte Februar 2015 ging das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales von bisher 55.600 Bewilligungen von Renten nach dem
ZRBG aus (http://www.donaukurier.de/nachrichten/topnews/Deutschland-Bundesrat-Renten-Parlament-NS-Ghetto-Rente-wird-kuenftig-auch-an-Polen-gezahlt;art154776,3025675,0;
letztmals abgerufen am 10.03.2015).
Die
Umsetzung des ZRBG oblag zunächst den Trägern, die über entsprechende
Rentenanträge zu entscheiden hatten. Dies waren vor allem die
Verbindungsstellen zu Israel und zu den USA, also die LVA Rheinprovinz
(ab 01.10.2005: DRV Rheinland) und die LVA Freie und Hansestadt Hamburg
(ab 01.10.2005 in der DRV Nord aufgegangen); auf beide Träger zusammen
entfielen über drei Viertel aller Anträge (Erhebung der DRV Bund vom
September 2008, mitgeteilt bei Lehnstaedt, Vierteljahreshefte für
Zeitgeschichte 2013, 363, 380). Die überwältigende Mehrzahl aller
Anträge wurde abgelehnt. Dies musste jedoch nicht unbedingt verwundern.
Denn als Erklärung bot sich die Annahme an, dass nur eine Minderzahl der
in den Ghettos Festgehaltenen die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 ZRBG
erfüllte; es lag nahe, dass den Antragstellern die Differenzierung
zwischen Beschäftigungen nach dieser Vorschrift und Zwangsarbeit nicht
bekannt oder nicht einsichtig war (vgl. BT-Drs. 16/1955,
S. 3). Dies allein erklärt jedoch nicht die durchaus unterschiedliche
Erfolgsquote der Anträge je nach befasstem Träger: Sie betrug (bis Mitte
2008) z.B. bei der LVA Rheinprovinz/DRV Rheinland ca. 5%, bei der LVA
Hamburg/DRV Nord dagegen ca. 16% (Lehnstaedt, a.a.O.).
Die Rechtsprechung der Instanzgerichte sah sich an der Entwicklung durchgreifend großzügigerer Kriterien gehindert (hierzu z.B. Freudenberg, jurisPR-SozR 3/2010 Anm. 4), weil
das BSG in seinem ersten Urteil zum ZRBG auch für Ansprüche nach diesem
Gesetz an den Voraussetzungen nach der Ghetto-Rechtsprechung
festgehalten hatte (BSG, 13. Senat, Urt. v. 07.10.2004 - B 13 RJ 59/03 R - BSGE 93, 214).
V. Die „Kehrtwende von Kassel“ und die folgende Rechtsprechung
Ändern
sollte sich dies erst im Gefolge der sog „Kehrtwende von Kassel“, also
der als solche bezeichneten Urteile des 13. und des 5. Senats des BSG
vom 02. und 03.06.2009 (13. Senat: Urt. v. 02.06.2009 - B 13 R 81/08 R -
BSGE 103, 190, hierzu Röhl, jurisPR-SozR 4/2010 Anm. 3; Urt. v.
02.06.2009 - B 13 R 139/08 R - BSGE 103, 201, und Urt. v. 02.06.2009 - B
13 R 85/08 R; 5. Senat: Urt. v. 03.06.2009 - B 5 R 26/08 R - BSGE 103,
220, hierzu Freudenberg, jurisPR-SozR 3/2010 Anm. 4, und Urt. v.
03.06.2009 - B 5 R 66/08 R). Bei der infolge der Rechtsprechungsänderung
veranlassten Nachprüfung der zuvor ergangenen ablehnenden Bescheide
ergab sich eine Bewilligungsquote von über 50% (BT-Drs. 17/13355, S. 2).
Wiederum
mit im Ergebnis übereinstimmenden Urteilen haben über dreieinhalb Jahre
später, am 07. und 08.02.2012, beide BSG-Rentensenate (13. Senat: Urt.
v. 07.02.2012 - B 13 R 40/11 R - BSGE 110, 97, hierzu Wehrhahn,
jurisPR-SozR 2/2013 Anm. 4, und Urt. v. 07.02.2012 - B 13 R 72/11 R; 5.
Senat: Urt. v. 08.02.2012 - B 5 R 38/11 R - SozR 4-5075 § 3 Nr. 1; Urt.
v. 08.02.2012 - B 5 R 42/11 R; Urt. v. 08.02.2012 - B 5 R 46/11 R, und
Urt. v. 08.02.2012 - B 5 R 76/11 R) ein durch die neue Rechtsprechung
ausgelöstes Folgeproblem entschieden: Für die Rückwirkung jener
Bescheide nach § 44 SGB X, mit denen die Rentenversicherungsträger der
„Kehrtwende“ Rechnung trugen, war (lediglich) die Vier-Jahres-Frist nach
Absatz 4 dieser Vorschrift einschlägig. Nachzutragen ist insoweit, dass
das BVerfG die gegen zwei der Urteile des 5. Senats vom 08.02.2012 gerichteten Verfassungsbeschwerden ohne nähere Begründung nicht zur Entscheidung angenommen hat (BVerfG, Beschl. v. 17.06.2013 - 1 BvR 1008/12; BVerfG, Beschl. v. 02.07.2013 - 1 BvR 1444/12).
Weitaus
nachteiliger als für die Berechtigten, die ihre Ansprüche nach dem ZRBG
erst nach der „Kehrtwende“ durchsetzen konnten, stellte sich jedoch die
Rechtslage für diejenigen früheren Ghetto-Beschäftigten dar, die ihren
Wohnsitz Ende 1990 und fortlaufend in Polen hatten und dort weiterhin
haben (BSG, 13. Senat, Urt. v. 10.07.2012 - B 13 R 17/11 R - BSGE 111,
184). Bereits die Materialien zum ZRBG hatten ausgeführt, dass die
Ghetto-Rente nach diesem Gesetz nicht zustehe, wenn Abkommensregelungen
anstelle des Rentenexports die Eingliederung der Beitragszeiten in das
System des Wohnsitzstaates vorsähen (so ausdrücklich BT-Drs. 14/8583,
S. 5, Allgemeines bzw. S. 6, zu § 2). Dies aber traf auf das „Abkommen
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über
Renten- und Unfallversicherung“ vom 09.10.1975 (Abk Polen RV/UV) zu,
das nach dem „Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
Republik Polen über soziale Sicherheit“ vom 08.12.1990 für die o.g.
Altfälle weiterhin gilt (geregelt in der EGV Nr. 883/ 2004, Anhang II,
Deutschland-Polen, Buchstabe a). Für diesen Personenkreis sind Renten
nur vom jeweiligen Träger des Wohnstaats zu zahlen (sog
Eingliederungsprinzip); der deutsche Rententräger darf also keine Renten
nach Polen leisten. Damit war es allein Sache des polnischen Rechts, ob
und wie Ghetto-Beschäftigungszeiten bei den dortigen Renten mitzählen.
Nachdem das ZRBG zum Recht der gesetzlichen Rentenversicherung gehört,
konnte, so das BSG, auch nicht damit argumentiert werden, dass das eine
mit dem anderen nichts zu tun habe.
VI. Gesetzgeberische Reaktion
Im
politischen Raum wurde das sich aus § 44 Abs. 4 SGB X ergebende Problem
zunächst als vordringlicher angesehen als das Anliegen, den in Polen
lebenden früheren Ghetto-Beschäftigten überhaupt Leistungen zukommen zu
lassen. Eine Sachverständigenanhörung vor dem Bundestags-Ausschuss für
Arbeit und Soziales im Dezember 2012 führte jedoch zu keiner, wie auch
immer gearteten, Gesetzesinitiative der damaligen CDU/CSU/FDP-Koalition.
Nachdem auch der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD nach der
Bundestagswahl 2013 lediglich unspezifisch eine „angemessene
Entschädigung für die in einem Ghetto geleistete Arbeit“ in Aussicht
gestellt hatte, kam es dennoch bald zu konkreten Lösungen:
- •
- Das „Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto“ vom 15.07.2014 (BGBl I 2014, 952) führte im Ergebnis ein Wahlrecht für alle Berechtigten nach dem ZRBG ein, ob sie – unabhängig vom konkreten Antragsdatum – ihre Rente vom frühestmöglichen Rentenbeginn an (fiktive Antragstellung am 18.06.1997) oder ab einem späteren Zeitpunkt (mit dem entsprechenden Zugangsfaktor) beziehen wollen. Ferner ist § 44 Abs. 4 SGB X auf Renten mit Zeiten nach dem ZRBG nicht anzuwenden.
- •
- Im Verhältnis zu Polen kam es zum „Abkommen vom 5. Dezember 2014 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen zum Export besonderer Leistungen für berechtigte Personen, die im Hoheitsgebiet der Republik Polen wohnhaft sind“. Es regelt den Export von Rentenleistungen aus Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto an solche Personen, die diese aufgrund ihres Wohnsitzes in Polen nicht erhalten haben, unbeschadet der begrenzten Fortgeltung des Abk Polen RV/UV vom 09.10.1975.
VI. Fazit
Selbst
wenn mit dem hier besprochenen Gesetz die Entwicklung des Rechts der
Ghetto-Renten abgeschlossen sein mag: Zwar sind nur noch wenige
Überlebende der Ghettos unter uns. Dennoch behält das ZRBG über die
unmittelbare Zukunft hinaus praktische Bedeutung, denn nach diesem
Gesetz sind auch Hinterbliebenenrenten zu erbringen.
Insgesamt
verbindet sich mit den Ghetto-Renten ein schwieriger und langwieriger
Ablauf in der Geschichte des deutschen Rentenrechts. Auch nach
Verkündung des ZRBG gab es vielfach Verzögerungen zu Lasten der in der
Regel hochbetagten Berechtigten. Nur ein kleiner Teil jener, die bereits
vor der Umsetzung der „Kehrtwende von Kassel“ verstorben waren, konnte
seine Ansprüche realisieren. Noch länger mussten die in Polen wohnhaften
früheren Ghetto-Beschäftigten warten.
Verfehlt
wäre es jedenfalls, insbesondere hinter dem langen Weg bis zur
„Kehrtwende“ eine Verschwörung zu sehen, die – aus welchen Gründen auch
immer – Wiedergutmachungsleistungen hintertreiben oder zumindest
hinauszögern wollte.
Vielmehr
wirkte sich rückblickend von Anfang an nachteilig aus, dass bei
Verabschiedung des ZRBG keine Klarheit über die Verhältnisse in den
Ghettos und, damit zusammenhängend, den Umfang des anspruchsberechtigten
Personenkreises bestand. Dies aber war unausweichlich, wollte man mit
der gesetzlichen Etablierung der Ghetto-Rente nicht bis zum Vorliegen
allseits gesicherter Erkenntnisse warten.
Bei
der anfangs mangelhaften Tatsachengrundlage konnte noch denkbar
erscheinen, dass der größte Teil der Anträge lediglich aufgrund von
Zeiten des reinen Aufenthalts im Ghetto oder aufgrund von im Ghetto
verrichteter Zwangsarbeit – die es natürlich auch gab – gestellt worden
war, wodurch die Leistungsvoraussetzungen des ZRBG nicht erfüllt wurden.
Die zeitgeschichtliche Forschung gewann die entscheidungserheblichen
Ergebnisse vielfach erst aufgrund der von den Instanzgerichten in
Auftrag gegebenen historischen Sachverständigengutachten. Durch diese
erhärtete sich die zunächst schwer nachvollziehbare Erkenntnis, dass es
in den jüdischen Ghettos so etwas wie einen Arbeitsmarkt mit der
Möglichkeit freier Willensentschlüsse gab: und dies nicht nur in
seltenen Ausnahmefällen, sondern durchaus verbreitet – auch wenn die
unmenschlichen Lebensbedingungen durch Zwangsmaßnahmen und durch kaum
vorstellbares Leid geprägt waren. Auf dieser Grundlage setzte sich
schließlich die Einsicht durch, dass zwar das ZRBG auf der 1997
begründeten Ghetto-Rechtsprechung des BSG beruhte, eine sachgerechte
Umsetzung der mit diesem Gesetz verfolgten Ziele aber nur unter Abkehr
von der strikten Umsetzung dieser Rechtsprechung möglich war.
Anm. der Redaktion:
Der Verfasser war von November 2004 bis September 2014 Vorsitzender des 13. Senats des BSG.
Autor: | Prof. Dr. Ulrich Steinwedel, Vors. RiBSG a.D. |
Erscheinungsdatum: | 28.05.2015 |
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