§ 122 Abs. 1 S. 1 SGB III; §§ 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 66 Abs. 1, 67 SGB I
Keine Unwirksamkeit der persönlichen Arbeitslosmeldung bei Vorsprache des Arbeitslosen ohne Ausweis
LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 20.07.2011 - L 3 AL 236/11
Leitsatz (des Gerichts):
Die Vorlage des Personalausweises kann für die Personenidentifikation erforderlich sein, sie ist jedoch keine Voraussetzung für die Wirksamkeit der Arbeitslosmeldung.
Anmerkung von RiSG Berlin Udo Geiger in info also 260-262
Anmerkung:
In einer Presseinformation der BA von März 2011 (Presse Info 012/2011 vom 08.03.2011) heißt es:
»Tipp: Gültigen Personalausweis bereithalten Wer sich persönlich arbeitslos meldet und Leistungen bei der Agentur für Arbeit oder den Jobcentern beantragt, braucht einen gültigen Personalausweis - ausländische Mitbürger einen Pass und eine aktuelle Meldebescheinigung, damit Identität und Wohnort festgestellt werden können. Immer häufiger kommt es vor, dass Ausweise und Pässe vorgelegt werden, deren Gültigkeit abgelaufen ist. Dann sind Ersatzdokumente notwendig und es kann zu Verzögerungen kommen.«
Dagegen ist im Grundsatz nichts einzuwenden. Aber was ist mit Arbeitslosmeldungen, die ohne oder mit abgelaufenen Personalpapieren erfolgen?
Wie man es nicht machen darf, zeigt die vorstehende Entscheidung.
Die persönliche Arbeitslosmeldung bei der Arbeitsagentur
Arbeitslosengeld (Alg) nach §§ 117 ff. SGB III gibt es erst auf eine persönliche Arbeitslosmeldung bei der Arbeitsagentur (AA). Die persönliche Arbeitslosmeldung wirkt nach § 122 Abs. 3 SGB III nur zurück, wenn die AA am Tag des Eintritts der Arbeitslosigkeit nicht dienstbereit war. Für den Anspruch auf Alg kommt es somit darauf an, dass der Tag der persönlichen Arbeitslosmeldung rechtssicher dokumentiert wird.
Die persönliche Arbeitslosmeldung stellt eine Tatsachenerklärung dar. Mit ihr wird der AA die Tatsache des Eintritts der Arbeitslosigkeit angezeigt. Die Arbeitslosmeldung dient dazu, die AA zeitnah und tatsächlich in die Lage zu versetzen, mit ihren Vermittlungsbemühungen zu beginnen, um die Arbeitslosigkeit und damit die Leistungspflicht möglichst rasch zu beenden (ständige Rechtsprechung, z.B. BSG vom 07.09.2000 - B 7 AL 2/00 R).
Dies kann die AA tun, sobald der Arbeitslose in der AA erscheint und sinngemäß zum Ausdruck bringt, er sei arbeitslos oder in nächster Zeit von Arbeitslosigkeit bedroht, d.h., ein Vermittlungsfall angezeigt wird (BSG vom 14.12.1995 - 11 RAr 75/95 und vom 07.10.2004 - B 11 AL 23/04 R). Der Vorlage eines gültigen Ausweisdokuments bedarf es dazu nicht.
Zweifel an der Personenidentität oder der angegebenen Wohnanschrift kann die AA auch später ausräumen. Um festzustellen, ob die arbeitslos gemeldete Person mit der sich später ausweisenden Person identisch ist, genügt es, anlässlich der erstmaligen persönlichen Meldung ein anderes Dokument mit Lichtbild (Führerschein, Bibliotheksausweis etc.) als Kopie zur Akte zu nehmen, um es dann mit dem Personalausweis oder Pass abzugleichen. Denkbar ist auch, dass ein Handy-Foto gemacht und im PC bis zum Abgleich gespeichert wird.
Besteht die AA darauf, dass die persönliche Arbeitslosmeldung nur mit Vorlage eines (gültigen) Personalausweises erfasst wird, muss sichergestellt sein, dass der Arbeitslose dies noch am gleichen Tag bewerkstelligen kann. Geht das wegen der Öffnungszeiten der AA oder anderweitiger Verpflichtungen des Arbeitslosen nicht, muss der oben aufgezeigte Weg beschritten werden, um einen Anspruchsverlust auszuschließen.
Wird dies verweigert, sollte der Arbeitslose darauf bestehen, dass der Vorgang in einem Computervermerk festgehalten wird. Denn der Arbeitslose ist im Zweifel für den Nachweis der persönlichen Arbeitslosmeldung am Tag, ab dem ein Alg-Anspruch geltend gemacht wird, beweispflichtig (s. dazu LSG NRW vom 09.12.2009 - L 12 AL 51/08).
Wurde der Arbeitslose wegen fehlender Ausweisdokumente weggeschickt, ist das aus den vom LSG Baden-Württemberg aufgezeigten Gründen rechtswidrig bzw. für den Beginn des Alg-Anspruchs unerheblich, wenn an der Tatsache der persönlichen Vorsprache auf der AA keine Zweifel bestehen; erst recht gilt das für eine rechtswidrige Nichterfassung der persönlichen Arbeitslosmeldung, weil der Pass abgelaufen war.
Wer gar keinen Pass hat, kann sich gleichwohl wirksam arbeitslos melden, indem er sich mit einem Foto oder einem sonstigen Foto-Dokument meldet und den Ersatzausweis zum Identitätsabgleich nachreicht.
Unverzichtbar für eine wirksame persönliche Arbeitslosmeldung nach § 122 SGB III sind wahrheitsgemäße Angaben zum Versicherungsfall der Beschäftigungslosigkeit. Wer (noch) in einem mehr als kurzzeitigen Arbeitsverhältnis beschäftigt ist und dies nicht mitteilt, kann sich nicht wirksam persönlich arbeitslos melden. Böse Konsequenzen hat das bei Aufnahme einer nicht unverzüglich der AA gemeldeten Arbeit, was zum Erlöschen der früheren persönlichen Arbeitslosmeldung führt (§ 122 Abs. 2 Nr. 2 SGB III). Alg gibt es dann erst auf eine neue persönliche Arbeitslosmeldung, auch wenn die Beschäftigung schon lange vorher beendet wurde (BSG vom 14.12.1995 -11 RAr 75/95).
Ob aus der Wahrheitspflicht zum Versicherungsfall der Schluss gezogen werden kann, dass eine persönliche Arbeitslosmeldung unter falschem Namen bei »echter« Beschäftigungslosigkeit unwirksam ist (so LSG Bayern vom 12.12.2000 - L 10 AL 45/00), hat das BSG vom 03.05.2001 -B 11 AL 25/01 B offengelassen. Im Ergebnis kam es darauf nicht an, weil der Betreffende aus anderen Gründen (fehlende Arbeitserlaubnis) nicht verfügbar war.
Dasselbe gilt für eine persönliche Arbeitslosmeldung unter einer falschen Adresse; selbst wenn die Arbeitslosmeldung wirksam ist, entsteht wegen der fehlenden Erreichbarkeit unter der angegebenen Anschrift (Verfügbarkeit nach § 119 SGB III) kein Alg-Anspruch.
Im Sonderfall der Nahtlosregelung nach § 125 SGB III kann die persönliche Arbeitslosmeldung nach § 125 Abs. 1 Satz 3 SGB III durch einen Vertreter vorgenommen werden, wenn der Arbeitslose wegen seiner Erkrankung nicht selber vorsprechen kann. Höchstrichterlich noch ungeklärt ist, ob der Vertreter persönlich vorsprechen muss (so SG Düsseldorf vom 11.06.2007 - S 13 (20) AL 58/06) oder ein Brief oder Fax eines Vertreters genügt (so SG Hamburg vom 14.09.2010 - S 17 AL 418/07; s. auch LSG NRW vom 28.02.2007 - L 1 B 6/07 AL). Vorsorglich sollte der Vertreter persönlich vorsprechen.
Die AA kann verlangen, dass er sich mit einer Vollmacht des Arbeitslosen legitimiert (§ 13 Abs. 1 Satz 2 SGB X). Die vertretungsweise vorgenommene Arbeitslosmeldung ist aber auch ohne Vollmacht wirksam, wenn die Vollmacht nachgereicht wird.
Die Arbeitssuchmeldung kann nach § 38 Abs. 1 Satz 2 SGB III auch telefonisch oder schriftlich unter Bekanntgabe der persönlichen Daten erfolgen, wenn die persönliche Vorsprache nach terminlicher Vereinbarung mit der AA nachgeholt wird. Unterbleibt trotz Nachfrage oder erkennbarem Bedarf eine Beratung über die Erforderlichkeit einer persönlichen Arbeitslosmeldung zur Begründung eines Alg-Anspruchs, ist fraglich, ob die BSG-Rechtsprechung zur Nicht-Fingierbarkeit der persönlichen Arbeitslosmeldung im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs anwendbar ist.
Denn die telefonische oder schriftliche Arbeitssuchmeldung soll ja bereits die Vermittlung in eine Anschlussbeschäftigung ermöglichen. Wenn die zur effektiven Arbeitsvermittlung erforderlichen Daten schon bei der Arbeitssuchmeldung abgefragt und gegeben werden, ist nicht erkennbar, welche Zusatzinformation die persönliche Arbeitslosmeldung noch bringen soll. Die vom BSG gegen die Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs auf die Arbeitslosmeldung nach § 122 SGB III vorgebrachten Argumente greifen dann nicht.
Jedenfalls kann eine persönliche Arbeitssuchmeldung nach § 38 SGB III als persönliche Arbeitslosmeldung nach § 122 SGB III gewertet werden, wenn ein Hinweis der AA auf die zusätzlich benötigte Arbeitslosmeldung unterbleibt (LSG Rheinland-Pfalz vom 28.02.2008 - L 1 AL 59/07).
Die persönliche Arbeitslosmeldung beim Jobcenter
Alg II kann auch schriftlich oder per Fax beantragt werden. Für den Beginn der Leistung genügt der Eingang des Briefes/Faxes beim Jobcenter. Vor Auszahlung der Leistung ist das Jobcenter aber berechtigt, durch Vorlage gültiger Dokumente die Identität und Wohnanschrift des Antragstellers zu prüfen.
Wird Alg II persönlich beantragt, ist eine Zurückweisung wegen fehlender Personalpapiere unzulässig. Das Jobcenter muss den Antrag entgegennehmen und Alg II ab Antragstellung bzw. Beginn des Monats, in dem der Antrag gestellt wird (§ 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II) auszahlen, wenn Identität und Aufenthaltsort geklärt sind.
Besteht (auch) ein Anspruch auf Alg nach §§ 117 ff. SGB III, kann nur die persönliche Vorsprache auf dem Jobcenter als ausreichende Arbeitslosmeldung nach § 122 SGB III für einen Anspruch auf Alg gegenüber der AA gewertet werden.
War in Unkenntnis eines Alg-Anspruchs zunächst Alg II nur schriftlich beantragt worden, hilft weder § 28 SGB X noch der Herstellungsanspruch, um den Beginn des Alg-Anspruchs auf den Tag des Eingangs des Alg II-Antragsschreibens zu verlegen. Dazu fehlt es an der persönlichen Arbeitslosmeldung nach § 122 SGB III. Kommt ein Anspruch auf Alg nach §§ 117 ff. SGB III in Betracht (sei es wegen ausreichender Versicherungszeiten, sei es wegen eines noch unverbrauchten Restanspruchs), sollte daher zum Alg II-Antrag vorsorglich eine persönliche Arbeitslosmeldung auf der AA erfolgen.
Quelle: Info also 2011
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Dienstag, 7. Februar 2012
Montag, 6. Februar 2012
Sozialgerichtliches Verfahren; Kostenerstattung nach erledigter Untätigkeitsklage
Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 20.01.2012, - S 174 AS 31567/11 -
Maßgeblich für das Vorliegen von Untätigkeit im Sinne von § 88 SGG ist der Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entscheidung und nicht der Zeitpunkt der Fertigung der Entscheidung.
Denn erst mit der Bekanntgabe an den Adressaten der Entscheidung (§§ 37, 39 SGB 10) - also bei schriftlichen Entscheidungen mit dem Zeitpunkt des Zuganges (BSG, Urteil vom 14.03.1996 -7 Rar 84/94- ) - ist diese erlassen und damit existent (vgl. BSGE 64, 17, 22).
https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=148923&s0=&s1=&s2=&words=&sensitive=
Maßgeblich für das Vorliegen von Untätigkeit im Sinne von § 88 SGG ist der Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entscheidung und nicht der Zeitpunkt der Fertigung der Entscheidung.
Denn erst mit der Bekanntgabe an den Adressaten der Entscheidung (§§ 37, 39 SGB 10) - also bei schriftlichen Entscheidungen mit dem Zeitpunkt des Zuganges (BSG, Urteil vom 14.03.1996 -7 Rar 84/94- ) - ist diese erlassen und damit existent (vgl. BSGE 64, 17, 22).
https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=148923&s0=&s1=&s2=&words=&sensitive=
Sonntag, 5. Februar 2012
Anmerkung zu: Frau Prof. Dr. jur. Helga Spindler in info also 2011, 270 zu Entscheidungen zur schriftlichen Rechtsfolgenbelehrung bei Sanktionen
Auszug Berlit a.a.O.:
Rechtsfolgenkenntnis statt Belehrung
Der schriftlichen Belehrung über die Rechtsfolgen eines Pflichtverstoßes ist deren »Kenntnis« gleichgestellt; der Nachweis über eine schriftliche Rechtsfolgenbelehrung muss in diesem Fall nicht geführt werden.(21) Die Regelung ist in der Anhörung zum Gesetzentwurf(22) zu Recht - auch als unpraktikabel - kritisiert worden. Verfassungswidrig ist sie - bei verfassungskonform einschränkender Auslegung - nicht.
Die Gesetzesbegründung verschweigt sich zu den genauen Anforderungen, die an diese Kenntnis zu stellen sind. Maßstab hat der vom Gesetzgeber gewollte Gleichrang von schriftlicher Rechtsfolgenbelehrung und Kenntnis der Rechtsfolgen zu sein. Schon nach dem Wortlaut ist eine positive Kenntnis erforderlich; nicht ausreichend ist ein »Kennenmüssen«, also die zurechenbare, (grob) fahrlässige Unkenntnis der Rechtsfolgen, oder ein »Kennenkönnen« (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Wegen des Gleichrangs reicht auch nur eine (positive) Kenntnis aus, die hinsichtlich der potentiell handlungsleitenden Wirkungen, insb. der Warn- und Signalfunktion, der einzelfallbezogenen schriftlichen Rechtsfolgenbelehrung gleichwertig ist. Erforderlich ist eine positive, aktuelle Kenntnis des jeweiligen Leistungsberechtigten von den konkreten Rechtsfolgen, die ein bestimmter Pflichtenverstoß in einer konkreten Situation haben wird.
Der Leistungsberechtigte muss - zumindest im Rahmen einer Parallelwertung in der Laiensphäre - erfasst und verstanden haben, dass und welche Rechtsfolgen sich bei einem bestimmten Verhalten ergeben werden. Erforderlich ist neben einem klaren Wissen um die differenzieren Rechtsfolgen auch die Fähigkeit, dieses Wissen in einer bestimmten Handlungs- oder Konfliktsituation abrufen und intellektuell verarbeiten zu können. Eine abstrakt mögliche Kenntnis aus der Vergangenheit muss bei dem Leistungsberechtigten noch aktuell wirken (können) und so in dessen Bewusstsein verankert sein, dass es in der aktuellen Situation noch handlungsleitend wirken kann. Allgemeine Belehrungen in Formblättern und Vordrucken sowie schriftliche Rechtsfolgenbelehrungen reichen nicht aus.
Die Kenntnis kann sowohl durch frühere Hinweise/Rechtsfolgenbelehrungen als auch durch mündliche Belehrungen vermittelt worden sein. Schriftliche Rechtsfolgenbelehrungen in der Vergangenheit sind für die Kenntnis unbeachtlich, wenn beachtliche Gründe (z.B. Sprachschwierigkeiten, Analphabetismus) dafür sprechen, dass sie nicht zur Kenntnis genommen oder verstanden worden sind.
Fehler einer schriftlich erteilten Rechtsfolgenbelehrung können regelmäßig nicht durch eine (positive) Kenntnis ausgeglichen werden. Auch wenn die schriftliche Rechtsfolgenbelehrung falsch, unzureichend, in sich widersprüchlich oder fehlerhaft ist, darf sich der Leistungsberechtigte regelmäßig auf diese verlassen und muss nicht davon ausgehen, dass seine Rechtskenntnis besser ist als die des Leistungsträgers. Nur in seltenen Ausnahmefällen wird der Leistungsberechtigte aktuell über so klare, differenzierte und sichere Rechtskenntnisse verfugen, dass er deswegen auch die Fehlerhaftigkeit der Rechtsfolgenbelehrung erkennt.
Die - differenzierte - Kenntnis ist vom Leistungsträger darzulegen und ggf. zu beweisen.
21 BT-Drs. 17/3404, 111.
22 BT - Ausschuss für Arbeit und Soziales -, Sachverständigenanhörung vom 22.11.2010,; dazu Zusammenstellung der schriftlichen Stellungnahmen (Ausschussdrucksache 17(11)309 v. 16.11.2010) und das Anhörungsprotokoll (Prot. 17/41).
Vgl. auch z.B. Berlit in LPK-SGB II, 4. Aufl., § 31Rn 79 ff; Herold-Tews in Löns-Herold/Tews, SGB II, 3. Aufl., § 31Rn 5 ff.; Geiger in Leitfaden zum Arbeitslosengeld II, 8. Aufl., S. 613, Kenntnis der Rechtsfolgen.
Rechtsfolgenkenntnis statt Belehrung
Der schriftlichen Belehrung über die Rechtsfolgen eines Pflichtverstoßes ist deren »Kenntnis« gleichgestellt; der Nachweis über eine schriftliche Rechtsfolgenbelehrung muss in diesem Fall nicht geführt werden.(21) Die Regelung ist in der Anhörung zum Gesetzentwurf(22) zu Recht - auch als unpraktikabel - kritisiert worden. Verfassungswidrig ist sie - bei verfassungskonform einschränkender Auslegung - nicht.
Die Gesetzesbegründung verschweigt sich zu den genauen Anforderungen, die an diese Kenntnis zu stellen sind. Maßstab hat der vom Gesetzgeber gewollte Gleichrang von schriftlicher Rechtsfolgenbelehrung und Kenntnis der Rechtsfolgen zu sein. Schon nach dem Wortlaut ist eine positive Kenntnis erforderlich; nicht ausreichend ist ein »Kennenmüssen«, also die zurechenbare, (grob) fahrlässige Unkenntnis der Rechtsfolgen, oder ein »Kennenkönnen« (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Wegen des Gleichrangs reicht auch nur eine (positive) Kenntnis aus, die hinsichtlich der potentiell handlungsleitenden Wirkungen, insb. der Warn- und Signalfunktion, der einzelfallbezogenen schriftlichen Rechtsfolgenbelehrung gleichwertig ist. Erforderlich ist eine positive, aktuelle Kenntnis des jeweiligen Leistungsberechtigten von den konkreten Rechtsfolgen, die ein bestimmter Pflichtenverstoß in einer konkreten Situation haben wird.
Der Leistungsberechtigte muss - zumindest im Rahmen einer Parallelwertung in der Laiensphäre - erfasst und verstanden haben, dass und welche Rechtsfolgen sich bei einem bestimmten Verhalten ergeben werden. Erforderlich ist neben einem klaren Wissen um die differenzieren Rechtsfolgen auch die Fähigkeit, dieses Wissen in einer bestimmten Handlungs- oder Konfliktsituation abrufen und intellektuell verarbeiten zu können. Eine abstrakt mögliche Kenntnis aus der Vergangenheit muss bei dem Leistungsberechtigten noch aktuell wirken (können) und so in dessen Bewusstsein verankert sein, dass es in der aktuellen Situation noch handlungsleitend wirken kann. Allgemeine Belehrungen in Formblättern und Vordrucken sowie schriftliche Rechtsfolgenbelehrungen reichen nicht aus.
Die Kenntnis kann sowohl durch frühere Hinweise/Rechtsfolgenbelehrungen als auch durch mündliche Belehrungen vermittelt worden sein. Schriftliche Rechtsfolgenbelehrungen in der Vergangenheit sind für die Kenntnis unbeachtlich, wenn beachtliche Gründe (z.B. Sprachschwierigkeiten, Analphabetismus) dafür sprechen, dass sie nicht zur Kenntnis genommen oder verstanden worden sind.
Fehler einer schriftlich erteilten Rechtsfolgenbelehrung können regelmäßig nicht durch eine (positive) Kenntnis ausgeglichen werden. Auch wenn die schriftliche Rechtsfolgenbelehrung falsch, unzureichend, in sich widersprüchlich oder fehlerhaft ist, darf sich der Leistungsberechtigte regelmäßig auf diese verlassen und muss nicht davon ausgehen, dass seine Rechtskenntnis besser ist als die des Leistungsträgers. Nur in seltenen Ausnahmefällen wird der Leistungsberechtigte aktuell über so klare, differenzierte und sichere Rechtskenntnisse verfugen, dass er deswegen auch die Fehlerhaftigkeit der Rechtsfolgenbelehrung erkennt.
Die - differenzierte - Kenntnis ist vom Leistungsträger darzulegen und ggf. zu beweisen.
21 BT-Drs. 17/3404, 111.
22 BT - Ausschuss für Arbeit und Soziales -, Sachverständigenanhörung vom 22.11.2010,; dazu Zusammenstellung der schriftlichen Stellungnahmen (Ausschussdrucksache 17(11)309 v. 16.11.2010) und das Anhörungsprotokoll (Prot. 17/41).
Vgl. auch z.B. Berlit in LPK-SGB II, 4. Aufl., § 31Rn 79 ff; Herold-Tews in Löns-Herold/Tews, SGB II, 3. Aufl., § 31Rn 5 ff.; Geiger in Leitfaden zum Arbeitslosengeld II, 8. Aufl., S. 613, Kenntnis der Rechtsfolgen.
Samstag, 4. Februar 2012
Anmerkung von Prof. Hans-Ulrich Weth in info also 2011, 276-277 zu SG Berlin, Beschl. v. 30.09.2011 - S 37 AS 24431/11 ER - Soforttilgung eines Mietkautionsdarlehens durch Aufrechnung
§ 22 Abs. 6 S. 3; §§ 39, 42a Abs. 2 S. 1 SGB II
Soforttilgung eines Mietkautionsdarlehens durch Aufrechnung
SG Berlin, Beschl. v. 30.09.2011 - S 37 AS 24431/11 ER
Leitsatz (der Redaktion)
Eine zehnprozentige Kürzung des Regelbedarfs über einen längeren Zeitraum (hier 23 Monate) zur Tilgung eines Mietkautionsdarlehens ist unzuässig.
Anmerkung von Prof. Hans-Ulrich Weth in info also 2011, 276-277
Ohne Zahlung einer Kaution oder Stellung einer ähnlichen Sicherheit (Bürgschaft) können Wohnungsuchende in der Regel keine Wohnung mieten. Soweit Leistungsberechtigung nach dem SGB II oder SGB XII besteht, ist bei Fehlen vorrangiger Selbsthilfemöglichkeiten die Übernahme der Kaution durch den Leistungsträger möglich und regelmäßig notwendig (§ 22 Abs. 6 SGB II, § 35 Abs. 2 Satz 4 SGB XII). Im Regelfall soll eine Mietkaution als Darlehen erbracht werden. In Rechtsprechung und Literatur bestand bislang - entgegen einer verbreiteten Verwaltungspraxis - weitgehend Übereinstimmung, dass eine sofortige Tilgung des Mietkautionsdarlehens durch Aufrechnung eines Teils der Regelleistung nicht statthaft ist (vgl. dazu die vom SG Berlin zitierten Fundstellen). Diese Auffassung hat der Gesetzgeber mit der seit 01.04.2011 geltenden Neuregelung in § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II zu Lasten der Leistungsberechtigten konterkariert, indem er ausnahmslos für alle im Rahmen des SGB II gewährten Darlehen, also auch für Mietkautionsdarlehen, einen sofort greifenden Tilgungsautomatismus durch monatliche Aufrechnung in Höhe von 10 Prozent des Regelbedarfs konstitutiert.
1. Das SG Berlin kommt in seinem Beschluss vom 30.09.2011 zu dem begrüßenswerten Ergebnis, dass der Leistungsberechtigten die SGB II-Leistungen ohne Einbehaltung von Tilgungsbeträgen für die Mietkaution auszuzahlen sind. Dieses Ergebnis gewinnt das Gericht letztlich durch den Versuch einer verfassungskonformen teleologischen Auslegung der beiden hier ineinandergreifenden Normen des § 22 Abs. 6 Satz 3 und § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II. In rechtsdogmatischer Hinsicht wirft die Argumentation des Gerichts Fragen auf. Die Soll-Vorschrift des § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II lässt für atypische Fälle eine Abweichung vom Regelfall der darlehensweisen Gewährung der Mietkaution zu. Einen solchen Fall bejaht das Gericht hier, da von vornherein nicht erkennbar war, dass die Leistungsberechtigte in einem angemessenen Zeitraum die Möglichkeit der Darlehensrückzahlung ohne Gefährdung ihres Existenzminimums haben würde.
Diese Einschätzung wird allerdings für zahlreiche vergleichbare, wenn nicht sogar für alle Fälle zutreffen, in denen die Leistungsberechtigten wegen der Höhe des zu tilgenden Mietkautionsdarlehens eine zehnprozentige Reduzierung ihres notwendigen Lebensunterhalts über einen längeren Zeitraum hinzunehmen haben. Damit würde sich das in § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II unterstellte Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehren, was rechtsdogmatisch zumindest problematisch wäre. Zudem ist festzustellen, dass der eindeutige Wortlaut des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II den Leistungsträgern kein Ermessen einräumt, bei dem möglicherweise die Belastungssituation der Leistungsberechtigten zu berücksichtigen wäre. Es erscheint zweifelhaft, ob hier über den Weg einer verfassungskonformen Auslegung Abhilfe zu schaffen ist.
2. Gegen die starre Regelung des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II bestehen zumindest bezüglich der Verpflichtung zur Soforttilgung eines Mietkautionsdarlehens erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken.
- Unter den üblichen Bedingungen des Wohnungsmarktes bringt die Regelung wohnungsuchende Alg II-Berechtigte in die Zwangslage, ihr Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum in Gestalt einer angemessenen Wohnung nur bei Strafe der Kürzung ihres sonstigen existenznotwendigen Lebensbedarfs umsetzen zu können. Sie haben dabei keine eigene Steuerungsmöglichkeit und keine Möglichkeit, durch ihr eigenes Verhalten Einfluss auf die Gestaltung ihrer Bedarfssituation zu nehmen. Damit werden sie zu Objekten staatlichen Handelns, ihre Subjektqualität wird prinzipiell in Frage gestellt. Das ist mit dem aus der Menschenwürde herzuleitenden sozialen Wert- und Achtungsanpruch nicht zu vereinbaren (vgl. etwa BVerfGE 87, 209 [218]).
- Die Neuregelung des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II ist vom Grundgedanken der Ansparkonzeption des SGB II, die das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich im Prinzip nicht beanstandet, jedenfalls für die zwingende sofortige Tilgungsverpflichtung aus dem Regelbedarf bei einem Mietkautionsdarlehen nicht gedeckt. Für den Bedarf der Erlangung einer Wohnung durch Stellung einer Mietkaution ist im Regelbedarf gem. § 20 SGB II kein Ansatz enthalten, der angespart werden könnte und Grundlage einer Aufrechnung sein könnte. Die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 09.02.2010 aufgestellte Anforderung eines schlüssigen Bedarfsbemessungssystems wird somit nicht erfüllt.
- Der mit dem Rechtsstaatssystem verbundene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird verletzt, wenn - wie vorliegend - die Gewährung einer Mietkaution ohne Berücksichtigung der Einzelfallumstände von einer zwangsweisen Reduzierung des Regelbedarfs über z.T. jahrelange Zeiträume hinweg abhängig gemacht wird. In § 42a Abs. 2 Satz 1 ist für die Rückzahlung während des Leistungsbezuges noch nicht einmal die Möglichkeit einer Vereinbarung vorgesehen, wie sie etwa in Abs. 4 für die Rückzahlungsmodalitäten im Fall der Leistungsbeendigung eröffnet wird.
- Im Sozialhilferecht ist zwar ebenfalls die Gewährung der Mietkaution als Darlehen vorgesehen, die Ausgestaltung der Tilgung steht aber im Ermessen des Sozialhilfeträgers (§§ 26, 35 SGB XII). Insofern werden SGB II-Leistungsberechtigte gegenüber Sozialhilfeberechtigten ungleich behandelt, ohne dass hierfür ein sachlicher Grund gegeben ist. Die Erwerbszentrierung des SGB II ist jedenfalls kein sachlicher Grund für eine unterschiedliche Handhabung. Somit liegt ein Verstoß gegen Art. 3 GG vor.
3. In verfahrensrechtlicher Hinsicht zeigt der Fall die Notwendigkeit einer prozessualen Doppelstrategie beim einstweiligen Rechtsschutz auf, die sich als Reaktion auf die von den Job-Centern häufig praktizierte Doppelstrategie bei der Bewilligung des Mietkautionsdarlehens anbietet. Zwar verlangt § 42a Abs. 2 Satz 2 SGB II die Regelung der Aufrechnung durch Verwaltungsakt. Ein Widerspruch hiergegen hat aufschiebende Wirkung, da ein solcher Verwaltungsakt nicht von § 39 SGB II erfasst wird.
Das Job-Center müsste in diesem Fall also die laufende Regelleistung ohne Einbehaltung von Tilgungsbeträgen auszahlen, bis über den Widerspruch und eine eventuelle Klage entschieden ist. Nicht selten wird jedoch von den Leistungsberechtigten gefordert, ihr Einverständnis mit der Darlehensgewährung und der Tilgung aus der Regelleistung zusätzlich durch einen Vertrag zu erklären. Wollen sie sich hiervon lösen, was gem. § 46 SGB I möglich ist, bedarf es eines Antrags auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung, um eine ungekürzte Auszahlung der Regelleistung zu erreichen.
A..A:
SG Marburg, Beschl. v. 08.12.2011 - S 8 AS 349/11 ER
Durch Tilgungsrate eines Kautionsdarlehens wird das soziokulturelle Existenzminium nicht unterschritten.
Soforttilgung eines Mietkautionsdarlehens durch Aufrechnung
SG Berlin, Beschl. v. 30.09.2011 - S 37 AS 24431/11 ER
Leitsatz (der Redaktion)
Eine zehnprozentige Kürzung des Regelbedarfs über einen längeren Zeitraum (hier 23 Monate) zur Tilgung eines Mietkautionsdarlehens ist unzuässig.
Anmerkung von Prof. Hans-Ulrich Weth in info also 2011, 276-277
Ohne Zahlung einer Kaution oder Stellung einer ähnlichen Sicherheit (Bürgschaft) können Wohnungsuchende in der Regel keine Wohnung mieten. Soweit Leistungsberechtigung nach dem SGB II oder SGB XII besteht, ist bei Fehlen vorrangiger Selbsthilfemöglichkeiten die Übernahme der Kaution durch den Leistungsträger möglich und regelmäßig notwendig (§ 22 Abs. 6 SGB II, § 35 Abs. 2 Satz 4 SGB XII). Im Regelfall soll eine Mietkaution als Darlehen erbracht werden. In Rechtsprechung und Literatur bestand bislang - entgegen einer verbreiteten Verwaltungspraxis - weitgehend Übereinstimmung, dass eine sofortige Tilgung des Mietkautionsdarlehens durch Aufrechnung eines Teils der Regelleistung nicht statthaft ist (vgl. dazu die vom SG Berlin zitierten Fundstellen). Diese Auffassung hat der Gesetzgeber mit der seit 01.04.2011 geltenden Neuregelung in § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II zu Lasten der Leistungsberechtigten konterkariert, indem er ausnahmslos für alle im Rahmen des SGB II gewährten Darlehen, also auch für Mietkautionsdarlehen, einen sofort greifenden Tilgungsautomatismus durch monatliche Aufrechnung in Höhe von 10 Prozent des Regelbedarfs konstitutiert.
1. Das SG Berlin kommt in seinem Beschluss vom 30.09.2011 zu dem begrüßenswerten Ergebnis, dass der Leistungsberechtigten die SGB II-Leistungen ohne Einbehaltung von Tilgungsbeträgen für die Mietkaution auszuzahlen sind. Dieses Ergebnis gewinnt das Gericht letztlich durch den Versuch einer verfassungskonformen teleologischen Auslegung der beiden hier ineinandergreifenden Normen des § 22 Abs. 6 Satz 3 und § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II. In rechtsdogmatischer Hinsicht wirft die Argumentation des Gerichts Fragen auf. Die Soll-Vorschrift des § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II lässt für atypische Fälle eine Abweichung vom Regelfall der darlehensweisen Gewährung der Mietkaution zu. Einen solchen Fall bejaht das Gericht hier, da von vornherein nicht erkennbar war, dass die Leistungsberechtigte in einem angemessenen Zeitraum die Möglichkeit der Darlehensrückzahlung ohne Gefährdung ihres Existenzminimums haben würde.
Diese Einschätzung wird allerdings für zahlreiche vergleichbare, wenn nicht sogar für alle Fälle zutreffen, in denen die Leistungsberechtigten wegen der Höhe des zu tilgenden Mietkautionsdarlehens eine zehnprozentige Reduzierung ihres notwendigen Lebensunterhalts über einen längeren Zeitraum hinzunehmen haben. Damit würde sich das in § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II unterstellte Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehren, was rechtsdogmatisch zumindest problematisch wäre. Zudem ist festzustellen, dass der eindeutige Wortlaut des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II den Leistungsträgern kein Ermessen einräumt, bei dem möglicherweise die Belastungssituation der Leistungsberechtigten zu berücksichtigen wäre. Es erscheint zweifelhaft, ob hier über den Weg einer verfassungskonformen Auslegung Abhilfe zu schaffen ist.
2. Gegen die starre Regelung des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II bestehen zumindest bezüglich der Verpflichtung zur Soforttilgung eines Mietkautionsdarlehens erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken.
- Unter den üblichen Bedingungen des Wohnungsmarktes bringt die Regelung wohnungsuchende Alg II-Berechtigte in die Zwangslage, ihr Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum in Gestalt einer angemessenen Wohnung nur bei Strafe der Kürzung ihres sonstigen existenznotwendigen Lebensbedarfs umsetzen zu können. Sie haben dabei keine eigene Steuerungsmöglichkeit und keine Möglichkeit, durch ihr eigenes Verhalten Einfluss auf die Gestaltung ihrer Bedarfssituation zu nehmen. Damit werden sie zu Objekten staatlichen Handelns, ihre Subjektqualität wird prinzipiell in Frage gestellt. Das ist mit dem aus der Menschenwürde herzuleitenden sozialen Wert- und Achtungsanpruch nicht zu vereinbaren (vgl. etwa BVerfGE 87, 209 [218]).
- Die Neuregelung des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II ist vom Grundgedanken der Ansparkonzeption des SGB II, die das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich im Prinzip nicht beanstandet, jedenfalls für die zwingende sofortige Tilgungsverpflichtung aus dem Regelbedarf bei einem Mietkautionsdarlehen nicht gedeckt. Für den Bedarf der Erlangung einer Wohnung durch Stellung einer Mietkaution ist im Regelbedarf gem. § 20 SGB II kein Ansatz enthalten, der angespart werden könnte und Grundlage einer Aufrechnung sein könnte. Die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 09.02.2010 aufgestellte Anforderung eines schlüssigen Bedarfsbemessungssystems wird somit nicht erfüllt.
- Der mit dem Rechtsstaatssystem verbundene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird verletzt, wenn - wie vorliegend - die Gewährung einer Mietkaution ohne Berücksichtigung der Einzelfallumstände von einer zwangsweisen Reduzierung des Regelbedarfs über z.T. jahrelange Zeiträume hinweg abhängig gemacht wird. In § 42a Abs. 2 Satz 1 ist für die Rückzahlung während des Leistungsbezuges noch nicht einmal die Möglichkeit einer Vereinbarung vorgesehen, wie sie etwa in Abs. 4 für die Rückzahlungsmodalitäten im Fall der Leistungsbeendigung eröffnet wird.
- Im Sozialhilferecht ist zwar ebenfalls die Gewährung der Mietkaution als Darlehen vorgesehen, die Ausgestaltung der Tilgung steht aber im Ermessen des Sozialhilfeträgers (§§ 26, 35 SGB XII). Insofern werden SGB II-Leistungsberechtigte gegenüber Sozialhilfeberechtigten ungleich behandelt, ohne dass hierfür ein sachlicher Grund gegeben ist. Die Erwerbszentrierung des SGB II ist jedenfalls kein sachlicher Grund für eine unterschiedliche Handhabung. Somit liegt ein Verstoß gegen Art. 3 GG vor.
3. In verfahrensrechtlicher Hinsicht zeigt der Fall die Notwendigkeit einer prozessualen Doppelstrategie beim einstweiligen Rechtsschutz auf, die sich als Reaktion auf die von den Job-Centern häufig praktizierte Doppelstrategie bei der Bewilligung des Mietkautionsdarlehens anbietet. Zwar verlangt § 42a Abs. 2 Satz 2 SGB II die Regelung der Aufrechnung durch Verwaltungsakt. Ein Widerspruch hiergegen hat aufschiebende Wirkung, da ein solcher Verwaltungsakt nicht von § 39 SGB II erfasst wird.
Das Job-Center müsste in diesem Fall also die laufende Regelleistung ohne Einbehaltung von Tilgungsbeträgen auszahlen, bis über den Widerspruch und eine eventuelle Klage entschieden ist. Nicht selten wird jedoch von den Leistungsberechtigten gefordert, ihr Einverständnis mit der Darlehensgewährung und der Tilgung aus der Regelleistung zusätzlich durch einen Vertrag zu erklären. Wollen sie sich hiervon lösen, was gem. § 46 SGB I möglich ist, bedarf es eines Antrags auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung, um eine ungekürzte Auszahlung der Regelleistung zu erreichen.
A..A:
SG Marburg, Beschl. v. 08.12.2011 - S 8 AS 349/11 ER
Durch Tilgungsrate eines Kautionsdarlehens wird das soziokulturelle Existenzminium nicht unterschritten.
Freitag, 3. Februar 2012
Atypische Referenzgruppen und die Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze in Hartz IV
Der Regelbedarf im SGB II und SGB XII wird an Hand so genannten Referenzhaushalten der Einkommensgruppe der unteren 15% der Einkommensbezieher ermittelt. Der größte Teil dieser Einkommensbezieher sind Rentner 38% sonstige Nichterwerbstätige 18%, d.h. insgesamt 56%. Demgegenüber stehen Arbeitnehmer und Selbständige mit 25% und Arbeitslose mit 20% = 45%.
Vergleichbar mit den Hartz IV Empfängern sind eigentlich nur die aktiven Erwerbstätigen und die Arbeitslosen. Alleinstehende Rentnerinnen, die dürften den größten Teil der Rentner ausmachen, haben einfach ein anderes Verbrauchsverhalten als Personen, die im aktiven Alter sind. Ausgaben für Alkohol, Computer und Handys dürften in diesen Kreisen fast nicht mehr in Gewicht fallen. Demgegenüber sind Ausgaben für Blumen (die man herausgenommen hat) hier durchaus nachvollziehbar und für Lebensmittel werden diese Personen zwangsläufig mehr ausgeben müssen, weil sie mangels Kraftfahrzeug nicht die Billigdiskonter aufsuchen können.
Aus den Verbrauchsausgaben dieser inhomogenen Gruppe werden dann noch einige Ausgaben als nicht zur Deckung des Regelbedarfs erforderlich gestrichen. Dies führt dazu, dass der Bedarf kaum noch ausgeglichen werden kann.
Wegen weiterer Einzelheiten: Helga Spindler Verfassungsrechts trifft auf Statistik. Wie soll man mit den Regelsätzen weiter umgehen?
Vergleichbar mit den Hartz IV Empfängern sind eigentlich nur die aktiven Erwerbstätigen und die Arbeitslosen. Alleinstehende Rentnerinnen, die dürften den größten Teil der Rentner ausmachen, haben einfach ein anderes Verbrauchsverhalten als Personen, die im aktiven Alter sind. Ausgaben für Alkohol, Computer und Handys dürften in diesen Kreisen fast nicht mehr in Gewicht fallen. Demgegenüber sind Ausgaben für Blumen (die man herausgenommen hat) hier durchaus nachvollziehbar und für Lebensmittel werden diese Personen zwangsläufig mehr ausgeben müssen, weil sie mangels Kraftfahrzeug nicht die Billigdiskonter aufsuchen können.
Aus den Verbrauchsausgaben dieser inhomogenen Gruppe werden dann noch einige Ausgaben als nicht zur Deckung des Regelbedarfs erforderlich gestrichen. Dies führt dazu, dass der Bedarf kaum noch ausgeglichen werden kann.
Wegen weiterer Einzelheiten: Helga Spindler Verfassungsrechts trifft auf Statistik. Wie soll man mit den Regelsätzen weiter umgehen?
Frau Prof. Dr. jur. Helga Spindler in info also 2011, 270 zu Entscheidungen zur schriftlichen Rechtsfolgenbelehrung bei Sanktionen
Bei Sanktionen ist, verstärkt nach der Neufassung des § 31 SGB II, bei der schriftlichen Belehrung auf eine individuelle Belehrung zu achten (vgl. dazu grundsätzlich Berlit, Änderungen zum Sanktionenrecht des SGB II zum 1. April 2011, info also 2011, 53-57). Wenn schon die schriftliche Belehrung rechtsfehlerhaft ist, weil sie aus der unübersichtlichen Aneinanderreihung jedweder Sanktionsmöglichkeiten und Mitwirkungspflichten besteht, dann ist auch nicht davon auszugehen, dass der Betroffene Kenntnis von den Sanktionsgrundlagen haben konnte. Diese verbreitete Unkenntnis der konkreten Folgen wurde durch den sachverständigen Behördenvertreter Norbert Maul bei der mündlichen Anhörung im Bundestagsausschuss zur Wirkung von Sanktionen am 6.6.2011 bestätigt.
Selbstverständlich sagt auch die korrekte individuelle Belehrung wenig über die Begründung der Sanktion und die Berücksichtigung möglicher wichtiger Gründe der Betroffenen aus. Aber wenn selbst die Belehrung nicht korrekt erfolgt, dann ist das zumindest ein Indiz, dass weder die Kommunikation noch die »passgenaue« Vermittlung und Eingliederung funktioniert. Bedrückend ist, wenn bei Entscheidungen minderjährige Kinder zu den Mitbetroffenen gehörten.
§ 31 SGB II a.F.
Anforderungen an eine schriftliche Rechtsfolgenbelehrung
SG Detmold, Urt. v. 10.02.2010 - S 18 (22) AS 21/09
Leitsätze (der Redaktion):
1. Eine allgemeine Information und Übersicht über die Rechtsfolgen verschiedener Pflichtverletzungen erfüllt nicht die Voraussetzungen einer einzelfallbezogenen Rechtsfolgenbelehrung für eine Sanktion wegen Verweigerung der Arbeitsaufnahme.
2. Zur Problematik der Beweiskraft nachträglich hergestellter Ausdrucke.
§ 31 SGB II a.F./n.F.
Anforderungen an eine schriftliche Rechtsfolgenbelehrung
SG Landshut, Beschl. v. 16.08.2011 - S 10 AS 536/11 ER
Leitsatz (der Redaktion):
1. Auch im neuen Sanktionenrecht sind strenge Anforderungen an die vorherige Rechtsfolgenbelehrung im Hinblick auf die gravierenden Folgen im Bereich existenzsichernder Leistungen zu stellen.
2. Fehler einer schriftlich erteilten Rechtsfolgenbelehrung können regelmäßig nicht durch eine positive Kenntnis ausgeglichen werden.
§ 31 Abs. 1, § 31a Abs. 3, § 39 Abs. 1 Nr. 1 SGB II n.F.
Rechtsfolgenbelehrung auch mit konkretem Hinweis auf Kürzungshöhe
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 22.08.2011 - L19 AS 1299/11 B ER
Leitsatz (der Redaktion):
Aus der Rechtsfolgenbelehrung muss unmittelbar deutlich werden, welche konkrete Rechtsfolge aus der Verletzung der vorher umschriebenen Pflicht resultieren wird.
Selbstverständlich sagt auch die korrekte individuelle Belehrung wenig über die Begründung der Sanktion und die Berücksichtigung möglicher wichtiger Gründe der Betroffenen aus. Aber wenn selbst die Belehrung nicht korrekt erfolgt, dann ist das zumindest ein Indiz, dass weder die Kommunikation noch die »passgenaue« Vermittlung und Eingliederung funktioniert. Bedrückend ist, wenn bei Entscheidungen minderjährige Kinder zu den Mitbetroffenen gehörten.
§ 31 SGB II a.F.
Anforderungen an eine schriftliche Rechtsfolgenbelehrung
SG Detmold, Urt. v. 10.02.2010 - S 18 (22) AS 21/09
Leitsätze (der Redaktion):
1. Eine allgemeine Information und Übersicht über die Rechtsfolgen verschiedener Pflichtverletzungen erfüllt nicht die Voraussetzungen einer einzelfallbezogenen Rechtsfolgenbelehrung für eine Sanktion wegen Verweigerung der Arbeitsaufnahme.
2. Zur Problematik der Beweiskraft nachträglich hergestellter Ausdrucke.
§ 31 SGB II a.F./n.F.
Anforderungen an eine schriftliche Rechtsfolgenbelehrung
SG Landshut, Beschl. v. 16.08.2011 - S 10 AS 536/11 ER
Leitsatz (der Redaktion):
1. Auch im neuen Sanktionenrecht sind strenge Anforderungen an die vorherige Rechtsfolgenbelehrung im Hinblick auf die gravierenden Folgen im Bereich existenzsichernder Leistungen zu stellen.
2. Fehler einer schriftlich erteilten Rechtsfolgenbelehrung können regelmäßig nicht durch eine positive Kenntnis ausgeglichen werden.
§ 31 Abs. 1, § 31a Abs. 3, § 39 Abs. 1 Nr. 1 SGB II n.F.
Rechtsfolgenbelehrung auch mit konkretem Hinweis auf Kürzungshöhe
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 22.08.2011 - L19 AS 1299/11 B ER
Leitsatz (der Redaktion):
Aus der Rechtsfolgenbelehrung muss unmittelbar deutlich werden, welche konkrete Rechtsfolge aus der Verletzung der vorher umschriebenen Pflicht resultieren wird.
Mittwoch, 1. Februar 2012
Die Vorschrift des § 44 Abs 1 Satz 2 SGB XII, die es nahelegen könnte, bei verspäteter Mitteilung einer Änderung der Verhältnisse die Leistungspflicht entfallen zu lassen, findet für einmalige Bedarfsänderungen - wie eine Heiz- und Nebenkostennachforderung - keine Anwendung.
Die Heiz- und Betriebskostennachforderung ist als Leistung nach § 29 SGB XII zu übernehmen , auch wenn sie von der Hilfebedürftigen bereits bezahlt wurde und verspätet beantragt wurde .
BSG,Urteil vom 10.11.2011, - B 8 SO 18/10 R -
Die Rechtmäßigkeit des Bescheids vom über die Ablehnung höherer einmaliger Leistungen der Kosten für Unterkunft und Heizung misst sich - entgegen anderer Ansichten in der sozialhilferechtlichen Literatur (H. Schellhorn in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl 2010, § 44 SGB XII RdNr 10; Schoch in Lehr- und Praxiskommentar (LPK) SGB XII, 8. Aufl 2008, § 44 SGB XII RdNr 7; Gröschel-Gundermann in Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII/AsylbLG, § 44 SGB XII RdNr 5, Stand April 2005; Steimer in Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe, § 44 SGB XII RdNr 13, Stand September 2008; Wenzel in Fichtner/Wenzel, SGB XII mit AsylbLG, 4. Aufl 2009, § 44 SGB XII RdNr 7) - an § 48 Abs 1 Satz 1 iVm Satz 2 Nr 1 SGB X (BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 38 RdNr 12; BSG, Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 12/10 R - RdNr 13); denn spätestens seit Inkrafttreten des SGB XII finden die Vorschriften der §§ 39 ff SGB X für die Wirksamkeit und Aufhebung von Verwaltungsakten grundsätzlich auch bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Anwendung (BSGE 99, 137 ff RdNr 14 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 11; Falterbaum in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 44 RdNr 9, Stand März 2009).
Nach § 48 Abs 1 Satz 1 iVm Satz 2 Nr 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung - wie vorliegend - vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, zugunsten des Betroffenen eine wesentliche Änderung eingetreten ist.
Bei der Beurteilung der Wesentlichkeit der Änderung iS des § 48 Abs 1 SGB X ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG lediglich darauf abzustellen, ob der Bescheid aufgrund der objektiven Verhältnisse unter den geänderten Bedingungen so nicht hätte erlassen werden dürfen (vgl nur: Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 48 RdNr 12 mwN; Waschull in LPK-SGB X, 3. Aufl 2011, § 48 RdNr 27 mwN).
Soweit in der sozialhilferechtlichen Literatur ein eigenständiger Begriff der Wesentlichkeit (mindestens 15 % höhere Leistungen) vertreten wird (vgl hierzu nur: Falterbaum in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 44 SGB XII RdNr 11 mwN, Stand März 2009; Kreiner in Oestreicher, SGB II/SGB XII, § 44 SGB XII RdNr 11, Stand Juni 2006), entbehrt dies einer gesetzlichen Grundlage (vgl auch Blüggel in jurisPK-SGB XII, § 44 SGB XII RdNr 21). § 44 Satz 2 und Satz 3 SGB XII normieren nämlich keine gegenüber § 48 SGB X völlig eigenständige Regelung, sondern modifizieren diese nur, soweit es den Leistungsbeginn betrifft (Kreikebohm in Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 2. Aufl 2011, § 44 SGB XII RdNr 3).
Gemäß § 42 Abs 1 Nr 2 SGB XII iVm § 29 Abs 1 und Abs 3 SGB XII werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht. Zwar unterfallen auch einmalige Kosten dieser Vorschrift und stellen einen Bedarf im Monat der Fälligkeit dar (BSG, Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 12/10 R - RdNr 15); jedoch beurteilt sich im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X die wesentliche Änderung gegenüber der früheren Sach- und Rechtslage nach dem Zeitpunkt der tatsächlichen Verursachung der Kosten (BSG, aaO, RdNr 13), also hier den Verhältnissen des Jahres 2006.
Mangels anderweitiger Regelungen ist die Nachforderung des Vermieters der Klägerin mit ihrer Geltendmachung fällig geworden; nicht zu prüfen ist, ob diese Forderung des Vermieters gerechtfertigt war. Es genügt, dass die Zahlung der Klägerin auf der Grundlage einer Vereinbarung gezahlt worden ist, es sich also um eine ernsthafte Forderung handelte (BSGE 104, 179 ff Nr 16 mwN = SozR 4-4200 § 22 Nr 24).
§ 44 Abs 1 SGB XII macht insgesamt deutlich, dass die Vorschrift nur einen mehr als einmonatigen Bewilligungszeitraum (in der Regel nach Satz 1 zwölf Monate) regelt. Insoweit wird in Satz 2 ausdrücklich auf einen solchen Bewilligungszeitraum Bezug genommen, dessen Beginn aus Praktikabilitätsgründen (Geltung des Monatsprinzips) zugunsten des Leistungsempfängers auf den Monatsanfang vorverlegt wird; Ziel dieser Regelung ist es, eine taggenaue Berechnung möglichst zu vermeiden (Blüggel in jurisPK-SGB XII, § 44 SGB XII RdNr 25).
Deshalb beginnt der neue Bewilligungszeitraum bei einer Änderung der Verhältnisse zu Lasten des Berechtigten nach Satz 3 auch erst mit dem Beginn des Folgemonats. § 44 Abs 1 Satz 2 SGB XII kann sich dann aber nach Sinn und Zweck der Vorschrift nicht auf einmalige Bedarfserhöhungen in einem einzelnen Monat beziehen. Weil der zusätzliche (einmalige) Bedarf an einem bestimmten Tag des Monats eintritt und weder auf den Monatsgesamtbedarf aufzuteilen ist noch sich auf den Bedarf der Folgemonate bezieht, geht es weder um die Vermeidung einer taggenauen Berechnung der Monatsleistung, noch kann, zu einem späteren Zeitpunkt ein neuer Bewilligungszeitraum in Gang gesetzt werden.
Die Richtigkeit dieser Auslegung belegen die Gesetzesmaterialien. Zwar existieren keine Gesetzesbegründungen zu § 44 SGB XII selbst; jedoch kann auf die Gesetzesmaterialien zum Grundsicherungsgesetz (GSiG) zurückgegriffen werden (so auch Blüggel in jurisPK-SGB XII, § 44 SGB XII RdNr 3). Darin ist zur inhaltlich gleichen Regelung des § 6 GSiG ausgeführt (BT-Drucks 14/5150, S 51 zu § 6), die Leistungen würden in Monatsbeträgen festgesetzt und zeitabschnittsweise bewilligt. Träten Veränderungen in den Verhältnissen ein, die für die Gewährung bzw Höhe der Leistung erheblich seien, müsse dies unverzüglich mitgeteilt werden.
Eine hieraus resultierende Veränderung des Anspruches zugunsten der Berechtigten solle dann dazu führen, dass mit dem Ersten des Monats ein neuer Bewilligungszeitraum beginne, in dem die Veränderung eingetreten und mitgeteilt worden sei. Anderenfalls beginne der neue Bewilligungszeitraum mit dem Ersten des Folgemonats nach Eintritt der Veränderung. Wenngleich diese Aussage der Gesetzesbegründung, falls sie sich nicht lediglich auf eine Änderung zu Lasten des Berechtigten bezieht, keine Grundlage in einer gesetzlichen Regelung gefunden hat - sie beruht sonst möglicherweise auf dem vom Senat nicht geteilten Verständnis, die allgemeinen Vorschriften des Verwaltungsverfahrensrechts fänden überhaupt keine Anwendung (vgl zu dieser Problematik: BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 15 RdNr 14 ff; BSG, Urteil vom 10.11.2011 - B 8 SO 12/10 R - RdNr 32) -, so zeigt sie doch, dass der Gesetzgeber Änderungen vor Augen hatte, die über die Dauer eines Monats hinaus fortwirken, bezogen auf zusätzliche Bedarfe also in der Folgezeit immer wieder neu entstehen, nicht lediglich als einmaliger Bedarf ungedeckt bleiben.
Entgegen der Ansicht der Beklagten steht einer nachträglichen Leistung an die Klägerin § 18 Abs 1 SGB XII nicht entgegen.
Danach setzt die Sozialhilfe, mit Ausnahme der Leistung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder der von ihm beauftragten Stelle bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistungen vorliegen. Abgesehen davon, dass bei den Grundsicherungsleistungen nach der ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung ohnedies der sogenannte Kenntnisgrundsatz durch das Antragsprinzip ersetzt ist und weder die Fortzahlung von Grundsicherungsleistungen nach Ablauf eines Bewilligungszeitraumes (vgl dazu BSGE 104, 207 ff = SozR 4-3530 § 6 Nr 1) noch eine Änderung des Bedarfs während des Bewilligungszeitraums einen neuen Antrag voraussetzt (vgl zur vergleichbaren Situation im Rahmen des SGB II BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 38), soll § 18 SGB XII nur einen niedrigschwelligen Zugang zum Sozialhilferecht sicherstellen (BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 15 RdNr 20; Coseriu in jurisPK-SGB XII, § 18 SGB XII RdNr 13 ff mwN; vgl auch BSG SozR 4-3500 § 18 Nr 1 RdNr 24).
Es ist nicht vorrangige Aufgabe des § 18 SGB XII, Leistungen für die Vergangenheit auszuschließen, sondern ein rechtzeitiges Eingreifen des Sozialhilfeträgers auch ohne Antrag zu gewährleisten (BSG SozR 4-3500 § 18 Nr 1 RdNr 24). Die Kenntnis braucht sich deshalb nicht auf die Höhe der zu erbringenden Leistung, sondern allein auf den Bedarf und die Hilfebedürftigkeit beziehen; der Sozialhilfeträger muss also lediglich Kenntnis vom Bedarfsfall als solchem haben (Coseriu, aaO, RdNr 15).
Dass die fällige Betriebs- und Heizkostenabrechnung von der Klägerin selbst - ohne die finanzielle Hilfe Dritter - bereits vor der Geltendmachung bei der Beklagten beglichen worden ist, lässt ihren Bedarf und den Anspruch auf höhere Leistungen nicht entfallen. Es gilt insoweit nichts anderes als bei Leistungen mit Wirkung für die Vergangenheit gemäß § 44 SGB X (vgl dazu BSGE 104, 213 ff RdNr 13 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 20).
https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=148562&s0=&s1=&s2=&words=&sensitive=
Der Beitrag wurde erstellt von Willi 2, Mitarbeiter des Sozialrechtsexperten RA Ludwig Zimmermann sowie Autor des wöchentlichen Rechtsprechungstickers von Tacheles
BSG,Urteil vom 10.11.2011, - B 8 SO 18/10 R -
Die Rechtmäßigkeit des Bescheids vom über die Ablehnung höherer einmaliger Leistungen der Kosten für Unterkunft und Heizung misst sich - entgegen anderer Ansichten in der sozialhilferechtlichen Literatur (H. Schellhorn in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl 2010, § 44 SGB XII RdNr 10; Schoch in Lehr- und Praxiskommentar (LPK) SGB XII, 8. Aufl 2008, § 44 SGB XII RdNr 7; Gröschel-Gundermann in Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII/AsylbLG, § 44 SGB XII RdNr 5, Stand April 2005; Steimer in Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe, § 44 SGB XII RdNr 13, Stand September 2008; Wenzel in Fichtner/Wenzel, SGB XII mit AsylbLG, 4. Aufl 2009, § 44 SGB XII RdNr 7) - an § 48 Abs 1 Satz 1 iVm Satz 2 Nr 1 SGB X (BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 38 RdNr 12; BSG, Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 12/10 R - RdNr 13); denn spätestens seit Inkrafttreten des SGB XII finden die Vorschriften der §§ 39 ff SGB X für die Wirksamkeit und Aufhebung von Verwaltungsakten grundsätzlich auch bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Anwendung (BSGE 99, 137 ff RdNr 14 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 11; Falterbaum in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 44 RdNr 9, Stand März 2009).
Nach § 48 Abs 1 Satz 1 iVm Satz 2 Nr 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung - wie vorliegend - vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, zugunsten des Betroffenen eine wesentliche Änderung eingetreten ist.
Bei der Beurteilung der Wesentlichkeit der Änderung iS des § 48 Abs 1 SGB X ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG lediglich darauf abzustellen, ob der Bescheid aufgrund der objektiven Verhältnisse unter den geänderten Bedingungen so nicht hätte erlassen werden dürfen (vgl nur: Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 48 RdNr 12 mwN; Waschull in LPK-SGB X, 3. Aufl 2011, § 48 RdNr 27 mwN).
Soweit in der sozialhilferechtlichen Literatur ein eigenständiger Begriff der Wesentlichkeit (mindestens 15 % höhere Leistungen) vertreten wird (vgl hierzu nur: Falterbaum in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 44 SGB XII RdNr 11 mwN, Stand März 2009; Kreiner in Oestreicher, SGB II/SGB XII, § 44 SGB XII RdNr 11, Stand Juni 2006), entbehrt dies einer gesetzlichen Grundlage (vgl auch Blüggel in jurisPK-SGB XII, § 44 SGB XII RdNr 21). § 44 Satz 2 und Satz 3 SGB XII normieren nämlich keine gegenüber § 48 SGB X völlig eigenständige Regelung, sondern modifizieren diese nur, soweit es den Leistungsbeginn betrifft (Kreikebohm in Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 2. Aufl 2011, § 44 SGB XII RdNr 3).
Gemäß § 42 Abs 1 Nr 2 SGB XII iVm § 29 Abs 1 und Abs 3 SGB XII werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht. Zwar unterfallen auch einmalige Kosten dieser Vorschrift und stellen einen Bedarf im Monat der Fälligkeit dar (BSG, Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 12/10 R - RdNr 15); jedoch beurteilt sich im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X die wesentliche Änderung gegenüber der früheren Sach- und Rechtslage nach dem Zeitpunkt der tatsächlichen Verursachung der Kosten (BSG, aaO, RdNr 13), also hier den Verhältnissen des Jahres 2006.
Mangels anderweitiger Regelungen ist die Nachforderung des Vermieters der Klägerin mit ihrer Geltendmachung fällig geworden; nicht zu prüfen ist, ob diese Forderung des Vermieters gerechtfertigt war. Es genügt, dass die Zahlung der Klägerin auf der Grundlage einer Vereinbarung gezahlt worden ist, es sich also um eine ernsthafte Forderung handelte (BSGE 104, 179 ff Nr 16 mwN = SozR 4-4200 § 22 Nr 24).
§ 44 Abs 1 SGB XII macht insgesamt deutlich, dass die Vorschrift nur einen mehr als einmonatigen Bewilligungszeitraum (in der Regel nach Satz 1 zwölf Monate) regelt. Insoweit wird in Satz 2 ausdrücklich auf einen solchen Bewilligungszeitraum Bezug genommen, dessen Beginn aus Praktikabilitätsgründen (Geltung des Monatsprinzips) zugunsten des Leistungsempfängers auf den Monatsanfang vorverlegt wird; Ziel dieser Regelung ist es, eine taggenaue Berechnung möglichst zu vermeiden (Blüggel in jurisPK-SGB XII, § 44 SGB XII RdNr 25).
Deshalb beginnt der neue Bewilligungszeitraum bei einer Änderung der Verhältnisse zu Lasten des Berechtigten nach Satz 3 auch erst mit dem Beginn des Folgemonats. § 44 Abs 1 Satz 2 SGB XII kann sich dann aber nach Sinn und Zweck der Vorschrift nicht auf einmalige Bedarfserhöhungen in einem einzelnen Monat beziehen. Weil der zusätzliche (einmalige) Bedarf an einem bestimmten Tag des Monats eintritt und weder auf den Monatsgesamtbedarf aufzuteilen ist noch sich auf den Bedarf der Folgemonate bezieht, geht es weder um die Vermeidung einer taggenauen Berechnung der Monatsleistung, noch kann, zu einem späteren Zeitpunkt ein neuer Bewilligungszeitraum in Gang gesetzt werden.
Die Richtigkeit dieser Auslegung belegen die Gesetzesmaterialien. Zwar existieren keine Gesetzesbegründungen zu § 44 SGB XII selbst; jedoch kann auf die Gesetzesmaterialien zum Grundsicherungsgesetz (GSiG) zurückgegriffen werden (so auch Blüggel in jurisPK-SGB XII, § 44 SGB XII RdNr 3). Darin ist zur inhaltlich gleichen Regelung des § 6 GSiG ausgeführt (BT-Drucks 14/5150, S 51 zu § 6), die Leistungen würden in Monatsbeträgen festgesetzt und zeitabschnittsweise bewilligt. Träten Veränderungen in den Verhältnissen ein, die für die Gewährung bzw Höhe der Leistung erheblich seien, müsse dies unverzüglich mitgeteilt werden.
Eine hieraus resultierende Veränderung des Anspruches zugunsten der Berechtigten solle dann dazu führen, dass mit dem Ersten des Monats ein neuer Bewilligungszeitraum beginne, in dem die Veränderung eingetreten und mitgeteilt worden sei. Anderenfalls beginne der neue Bewilligungszeitraum mit dem Ersten des Folgemonats nach Eintritt der Veränderung. Wenngleich diese Aussage der Gesetzesbegründung, falls sie sich nicht lediglich auf eine Änderung zu Lasten des Berechtigten bezieht, keine Grundlage in einer gesetzlichen Regelung gefunden hat - sie beruht sonst möglicherweise auf dem vom Senat nicht geteilten Verständnis, die allgemeinen Vorschriften des Verwaltungsverfahrensrechts fänden überhaupt keine Anwendung (vgl zu dieser Problematik: BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 15 RdNr 14 ff; BSG, Urteil vom 10.11.2011 - B 8 SO 12/10 R - RdNr 32) -, so zeigt sie doch, dass der Gesetzgeber Änderungen vor Augen hatte, die über die Dauer eines Monats hinaus fortwirken, bezogen auf zusätzliche Bedarfe also in der Folgezeit immer wieder neu entstehen, nicht lediglich als einmaliger Bedarf ungedeckt bleiben.
Entgegen der Ansicht der Beklagten steht einer nachträglichen Leistung an die Klägerin § 18 Abs 1 SGB XII nicht entgegen.
Danach setzt die Sozialhilfe, mit Ausnahme der Leistung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder der von ihm beauftragten Stelle bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistungen vorliegen. Abgesehen davon, dass bei den Grundsicherungsleistungen nach der ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung ohnedies der sogenannte Kenntnisgrundsatz durch das Antragsprinzip ersetzt ist und weder die Fortzahlung von Grundsicherungsleistungen nach Ablauf eines Bewilligungszeitraumes (vgl dazu BSGE 104, 207 ff = SozR 4-3530 § 6 Nr 1) noch eine Änderung des Bedarfs während des Bewilligungszeitraums einen neuen Antrag voraussetzt (vgl zur vergleichbaren Situation im Rahmen des SGB II BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 38), soll § 18 SGB XII nur einen niedrigschwelligen Zugang zum Sozialhilferecht sicherstellen (BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 15 RdNr 20; Coseriu in jurisPK-SGB XII, § 18 SGB XII RdNr 13 ff mwN; vgl auch BSG SozR 4-3500 § 18 Nr 1 RdNr 24).
Es ist nicht vorrangige Aufgabe des § 18 SGB XII, Leistungen für die Vergangenheit auszuschließen, sondern ein rechtzeitiges Eingreifen des Sozialhilfeträgers auch ohne Antrag zu gewährleisten (BSG SozR 4-3500 § 18 Nr 1 RdNr 24). Die Kenntnis braucht sich deshalb nicht auf die Höhe der zu erbringenden Leistung, sondern allein auf den Bedarf und die Hilfebedürftigkeit beziehen; der Sozialhilfeträger muss also lediglich Kenntnis vom Bedarfsfall als solchem haben (Coseriu, aaO, RdNr 15).
Dass die fällige Betriebs- und Heizkostenabrechnung von der Klägerin selbst - ohne die finanzielle Hilfe Dritter - bereits vor der Geltendmachung bei der Beklagten beglichen worden ist, lässt ihren Bedarf und den Anspruch auf höhere Leistungen nicht entfallen. Es gilt insoweit nichts anderes als bei Leistungen mit Wirkung für die Vergangenheit gemäß § 44 SGB X (vgl dazu BSGE 104, 213 ff RdNr 13 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 20).
https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=148562&s0=&s1=&s2=&words=&sensitive=
Der Beitrag wurde erstellt von Willi 2, Mitarbeiter des Sozialrechtsexperten RA Ludwig Zimmermann sowie Autor des wöchentlichen Rechtsprechungstickers von Tacheles
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