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Gefahr durch Hartz-IV-Empfänger

Der riskante Alltag in deutschen Job-Centern

Mittwoch, 04.12.2013, 10:03 · von FOCUS-Online-Autorin


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dpa Der Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie, Ralf Armin Jarosch, schult Jobcenter-Mitarbeiter in Berlin
Jeder dritte Hartz-IV-Empfänger hat psychische Störungen – und die Arbeitsvermittler fühlen sich überfordert. FOCUS Online erklärt, in welchem Dilemma die Jobcenter stecken, und wie Experten die Mitarbeiter auf heikle Situationen vorbereiten.
Benedikt Weber (Name geändert) war wegen seiner Panikattacken jahrelang arbeitslos. Seine Angst breitete sich wie eine zähe schwarze Masse in ihm aus und gab ihm das Gefühl, er sei ein Versager. Dazu kam der Spott seiner Arbeitsvermittler. „Mir saßen im Jobcenter Leute gegenüber, die keine Ahnung von meinen Angstzuständen hatten“, sagt Weber FOCUS Online.
Jeder dritte Hartz-IV-Empfänger ist laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und der Uni Halle-Wittenberg psychisch krank. Bei mehr als einem Drittel der Hartz-IV-Empfänger stellten die Forscher innerhalb eines Jahres mindestens eine psychische Beeinträchtigung fest. Die Forscher berufen sich vor allem auf Zahlen der Krankenkassen. Etwa 17 Prozent der Hartz-IV-Empfänger hatten demnach eine Diagnose aus dem Bereich der affektiven Störungen, also beispielsweise eine Depression. 22 Prozent wiesen neurotische Belastungsstörungen wie Angst- oder Zwangsstörungen oder damit zusammenhängende körperliche Beschwerden auf. Weil sie deswegen kaum Jobchancen hätten, bräuchten die Arbeitslosen eine bessere, längere Förderung, schreiben die Forscher.
Doch viele Jobcenter-Mitarbeiter sind damit überfordert, das zu erkennen oder wissen nicht, wie sie mit den Betroffenen umgehen sollen. So kommt es zu Missverständnissen, wenn Jobvermittler beispielsweise depressive Hartz-IV-Empfänger sanktionieren, weil sie deren Antriebslosigkeit als null Interesse an einem Job interpretieren. Forscher einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und der Uni Halle-Wittenberg fordern, den Mitarbeitern eine "Interpretationshilfe" an die Hand zu geben. Diese leisten Experten wie Ralf Armin Jarosch, Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Evangelischen Hochschule Berlin. Er schult zum Beispiel Arbeitsvermittler des Berliner Jobcenters Steglitz-Zehlendorf.

Jobcenter-Trainer sieht Mitarbeiter im Dilemma  

Jarosch sieht die Job-Center-Mitarbeiter in einem Dilemma. Im Interview mit FOCUS Online sagte Jarosch: „Eigentlich müssten sie eine fachmedizinische Kompetenz besitzen, um psychisch Kranken helfen zu können – was nicht ihre Aufgabe ist.“ Das Ziel sei, dass sie ihre Klienten wieder in Jobs vermitteln - und das ist schwierig, wenn sie nicht erkennen, dass die Arbeitslosen zuerst eine Therapie brauchen. Noch schwieriger ist es, wenn die Klienten im Jobcenter aggressiv werden. Ein Extrembeispiel dafür war im September 2012 die Messerattacke eines Arbeitslosen auf seine Betreuerin im Jobcenter Neuss, die tödlich endete. Jarosch glaubt, dass sich solche Situationen verhindern ließen, wenn die Mitarbeiter im Vorfeld aufmerksam sind: "Den Sicherheitsdienst zu rufen, kann nur der letzte Schritt sein", sagt der Coach. Oft fühlten sich Langzeitarbeitslose von der arbeitenden Gesellschaft ausgegrenzt. „Sie beginnen dann damit, dieses Gefühl der permanenten Kränkung auch auf die Mitarbeiter des Jobcenters zu projizieren, die doch oft ihre letzten Sozialkontakte sind“, erklärt er. Einige versuchten sogar die Verbindung zu halten, obwohl gegen sie ein Hausverbot verhängt wurde. So habe das Berliner Jobcenter Steglitz-Zehlendorf die Regelung getroffen, dass Klienten, die wegen ihrer extremen Aggressivität Hausverbot haben, zu Gesprächen an die Eingangstür kommen dürfen; Sicherheitskräfte seien dabei.


Wahnvorstellungen, Depressionen, Ängste – und Hartz IV 

Jobcenter-Mitarbeiter sind mit psychisch Kranken überfordert

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dpa Die inzwischen freigestellte Mitarbeiterin des Hamburger Jobcenters, Inge Hannemann
Die Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann hat über die Zustände in ihrem Jobcenter in Hamburg-Altona gebloggt - und wurde daraufhin von ihrem Chef beurlaubt. Der Fall wird Ende Februar erneut vor Gericht verhandelt.
Hannemann weigerte sich, ihre schwierigen „Kunden“ im Jobcenter Altona zu sanktionieren. Stattdessen telefonierte die aufmüpfige Sachbearbeiterin hinter ihnen her, besuchte sie zu Hause, diskutierte ihre Fälle nach Feierabend anonym mit einer Psychotherapeutin. Hannemann begann daraufhin, das Gespräch mit den Arbeitslosen darauf zu lenken und sie zu überreden, medizinische Hilfe anzunehmen. „Ich musste meine Leute nicht sanktionieren“, sagt Hannemann FOCUS Online. Ihre Kollegen wolle sie damit nicht schlecht machen: „Die meisten waren ganz empathische, tolle Menschen, aber eben nicht darauf geschult, mit psychisch Kranken umzugehen.“ Außerdem stünden sie unter dem permanenten Druck, den „Arbeitslos“-Status ihrer Kunden zu ändern. Und wenn die Arbeitslosen nicht mitmachten, drohten sie ihnen eben mit Hartz-IV-Kürzung und -Streichung. Hannemann will das ändern: Bis zum 18. Dezember sammelt sie Unterschriften für ihre Petition.

Depressive „Verweigerin“ bekam weniger Hartz IV

Hannemanns Kollegen hatten einer jungen Frau das Hartz-IV gekürzt, weil sie nicht zu Terminen kam. Sie schoben sie dann Hannemann als „Verweigerin“ rüber. Die fand heraus, dass die Abiturientin unter Depressionen und einer Sozialpsychose litt. „Sie konnte einfach nicht ihr Haus verlassen, sie schaffte es nur zu ihrer Therapeutin, deren Praxis direkt gegenüber lag. Diese Frau konnte einfach nicht arbeiten“, sagt die ehemalige Jobcenter-Mitarbeiterin FOCUS Online. Als sie der Frau den Druck nahm, sei es aufwärts gegangen. "Sie kam zu Gesprächen, wollte eine Ausbildung, vielleicht sogar ein Studium anfangen“, erzählt Hannemann.
Auch wenn die Vorgehensweise von Hannemann umstritten ist: Jobcenter-Trainer Jarosch hält es für wichtig, die Mitarbeiter darauf zu schulen, solche Problemfälle besser zu erkennen. „Denn alles verläuft ins Leere, wenn niemand die Anzeichen einer Erkrankung rechtzeitig erkennt“. Seine Seminarteilnehmer lernen zwar nicht, Diagnosen zu stellen, denn sie sind keine Psychologen. Aber sie lernen die Hintergründe psychischer Krankheiten kennen. „In unserer Gesellschaft sind psychische Erkrankungen sehr schlecht akzeptiert“, stellt Jarosch fest. „Man kann nicht wie ein Zuckerkranker seine Insulinspritze herausholen und zeigen – ‚Hier ist meine Krankheit‘ – und alle wissen, worum es geht.“ Ein Depressiver lege nicht seine Tablettenpackung auf den Tisch seines Jobvermittlers. Denn vielleicht hat er erlebt, dass sich Menschen von ihm abwenden und seine Depression nur als Traurigsein abtun. „Depression wird mit dauerhafter Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung gleichgesetzt. Böse gesagt: ‚Der ist nichts mehr wert‘“, kritisiert Jarosch.
Er erklärt in seinen Seminaren, welche Gesprächstaktiken funktionieren: Wenn ein Hartz-IV-Empfänger unter Wahnvorstellungen leidet oder Stimmen hört, dürften die Jobcenter-Mitarbeiter das nicht mit ihm diskutieren: „Ein Satz wie ‚Na ja, das ist doch nur eine Einbildung. Stellen Sie sich mal nicht so an‘ hilft hier überhaupt nicht.“ Stattdessen rät Jarosch knapp zu entgegen: „Ich verstehe, dass Sie diese Dinge erleben – ich erlebe sie nicht.“ Dadurch ignoriere der Jobvermittler nicht, was der Arbeitslose erlebt. Gleichzeitig zeige er ihm, dass es eben Menschen gibt, die andere Dinge erleben. Es sei wichtig, den Kranken dazu zu bringen, seine Krankheit auch als solche zu begreifen, indem ihm Beratungen bei medizinischem Fachpersonal angeboten würden.

Wahnvorstellungen, Depressionen, Ängste – und Hartz IV 

Kein Tadel, wenn Kunde betrunken ist

Angenommen, der Hartz-IV-Empfänger hat ein offensichtliches Problem: Alkohol. Dann solle der Mitarbeiter klarstellen: „Ich rieche Alkohol und will nicht diskutieren, ob Sie welchen getrunken haben. Aber ich stelle auch fest, dass Ihre Sprache verwaschen ist, und bin deshalb der Meinung, dass wir uns an einem anderen Tag wiedersehen sollten.“ Er solle sich also weder eine Ausrede für die Terminverschiebung überlegen, noch tadeln: „Sie haben doch was getrunken!“ Auch wenn der Hartz-IV-Empfänger ausflippt, solle sich der Mitarbeiter neutral und zugewandt verhalten. „Eine Reaktion des Mitarbeiters könnte hier sein: ‚Ich erlebe Sie sehr aufgeregt. Meine Absicht ist es, Ihnen zu helfen‘“, schlägt Jarosch vor.

Kranke brauchen Verständnis und Zeit

Dass die Jobvermittlung psychisch Kranker nur mit mehr Verständnis und Zeit funktioniert, zeigt das Beispiel Benedikt Weber. Irgendwann hatte eine Fallmanagerin die überforderten Kollegen abgelöst. „Sie wusste, dass ich nicht den ganzen Tag arbeiten konnte, hat mir Zeit gegeben. Und dann hatte sie eine Idee, was ganz vielleicht passen könnte.“ Und sie hatte Recht. Weber war so weit. Er stieg probeweise bei einem Logistikunternehmen ein und wurde übernommen. „So muss das laufen“, kommentiert Hannemann.

focus money online 04.12.2013

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